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Das Crime-Experiment: Werden wir unbewusst zu Verbrechern?

Foto: Imago / UIG

Das Crime-Experiment: Werden wir unbewusst zu Verbrechern?

Experimente gehören ins Labor? Das war einmal. Mittlerweile ist unser Alltag ein Testfeld und Millionen Menschen sind Versuchsobjekte geworden – ohne davon das Geringste zu ahnen. WdW deckt die drastischsten Fälle auf. Diese Woche: Das Crime-Experiment.

Es ist noch früh am Morgen, als Robert McDaniel Besuch von Beamten des Chicago Police Department bekommt. Obwohl der 22-Jährige weder ein Verbrechen begangen hat noch als Zeuge gesucht wird, ist die Warnung der Polizisten deutlich: „Wir beobachten Sie. Machen Sie jetzt keinen Fehler!“ Was der Student nicht weiß: McDaniel ist nur einer von Millionen Teilnehmern eines Massen-Experiments, das bereits seit vier Jahren in Dutzenden Großstädten der USA läuft: das Predictive Policing.

Gibt es 93-prozentige Mörder?

Dabei erstellen hochkomplexe Algorithmen anhand von Tausenden Parametern eine Art Verbrechensvorhersage in Echtzeit. Durch McDaniels Lebenslauf (Ladendiebstahl als Teenager), sein Wohnviertel (Problembezirk) und seine Kontakte (ein Freund wurde vor Kurzem erschossen) hat er es auf die Heat List des Chicago Police Department geschafft. Hier stehen derzeit 420 Verdächtige. Sie werden vom Computer als „kriminelle Zeitbomben“, die wahrscheinlich bald in ein Verbrechen verwickelt sind, eingestuft. Das Problem: Zwar konnten durch die Predictive-Policing-Programme in vielen US-Städten tatsächlich die Verbrechensraten erheblich gesenkt werden. Das Live-Experiment verhindert jedoch nicht nur Verbrechen und identifiziert potenzielle Mörder – es bringt auch Unschuldige wie McDaniel ins Visier der Ermittler. Mehr noch: Es könnte in Zukunft das Verhalten von Millionen Menschen manipulieren …

Wo beginnt abnormales Verhalten?

Und daran arbeiten nicht nur Forscher und Regierungen in den USA, sondern auch in Europa. So läuft seit 2009 das EU-Forschungsprojekt INDECT. Bei diesem Experiment werten Algorithmen die Bilder von Überwachungskameras aus, um verdächtiges – sogenanntes abweichendes – Verhalten von Passanten zu erkennen und  vorherzusagen. „Wenn man in einer U-Bahn-Station sitzt und die Bahnen schon dreimal  vorbeigefahren sind, dann werten diese Programme das schon als abnormales Verhalten“, erklärt ein wissenschaftlicher Mitarbeiter von der Technischen Universität Berlin. Er ist überzeugt: Je umfassender und bekannter diese Live-Experimente in Zukunft werden, desto stärker beeinflussen sie das Verhalten der unfreiwilligen Teilnehmer.

„Ein Hilfsmittel für Menschen, die andere Menschen kontrollieren wollen“

Die Folge: „Es kann zu einem Chilling-Effekt kommen, bei dem sich Personen ‚vorsichtig‘ verhalten, obwohl sie keine Straftat planen“, meint der Rechtsanwalt Udo Vetter. Tatsächlich haben bereits Dutzende Labor-Experimente gezeigt, dass Menschen sich anders verhalten, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden. Für die Pre-Crime-Forscher steht jedenfalls fest: „Die automatisierte Videoüberwachung ist nichts anderes als eine Waffe: ein Hilfsmittel für Menschen, die andere Menschen kontrollieren wollen.“
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