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Geheimnisvoller Riesen-Strom: Die ungeschriebenen Gesetze des Nils

Foto: Imago / Xinhua

Geheimnisvoller Riesen-Strom: die ungeschriebenen Gesetze des Nils

Er ließ eine der ersten Hochkulturen der Menschheit entstehen und ist mit 6852 Kilometern der längste Wasserlauf der Erde. Doch der Nil ist auch eine extrem empfindliche Lebensader, die, wenn sie einmal aus dem Gleichgewicht gebracht wird, sogar ganz versiegen kann. Welt der Wunder erklärt die Gesetze des Mega-Stroms.

Gesetz 1: Ein starker Fluss hat viele Quellen

„Caput Nili quaerere!“ – „Den Ursprung des Nils suchen!“, so lautete der Schlachtruf römischer Expeditionen. Seit jeher fragte man sich, woher das viele Wasser in der Wüste kommt. Ein von Kaiser Nero ausgesandter Trupp gelangte immerhin bis in den Südsudan, wo die Forscher den Nil im Sudd, einer gigantischen Sumpflandschaft, versiegt glaubten. Der britische Forscher John Hanning Speke kam dem Ursprung schon näher, als er 1862 den Victoriasee entdeckte, aus dem der Nil nach Norden fließt.

Tatsächlich betrachtet man heute den größten Zufluss des Victoriasees, den Kagera, beziehungsweise dessen zwei Quellflüsse in Burundi und Ruanda als die beiden südlichsten Quellen des Nils. Doch auf seinem Weg nordwärts verliert der hier noch Weißer Nil genannte Fluss an Wasser: Allein im Sudd verdunsten sechzig Prozent. Unmöglich, dass er, derart geschwächt, noch die größte Wüste der Welt durchqueren kann.

Warum der längste Fluss der Welt beinahe noch länger geworden wäre

Doch kurz nach dem Sudd vereinigt sich der Blaue Nil mit dem Weißen Nil zum Nil und bringt als Mitgift achtzig Prozent des Wassers aus dem Äthiopischen Hochland mit. So schafft der Nil die 3000 Kilometer durch die Sahara bis zum Mittelmeer.

Alle Zuflüsse eingerechnet, ergeben Satellitenaufnahmen eine Länge von 6852 Kilometern. Und fast wäre der längste Fluss der Erde (der Amazonas wird auf 6500 Kilometer Länge geschätzt) noch länger geworden. Im Miozän vor 23 bis fünf Millionen Jahren bestand noch eine Verbindung zum Tanganjikasee. Er liegt im Ostafrikanischen Graben, einer tiefen seismischen Verwerfung. Durch die Bewegungen der Erdkruste türmten sich die acht Virunga-Vulkane auf und unterbrachen den Zufluss. Ohne sie hätte der Nil heute 1.400 Kilometer mehr.

Gesetz 2: Mach dir den Nil zu eigen

Wie Wachtposten begrüßen die in Stein gehauenen Gottkönige der Ägypter ihren wahren Herrscher: Hier, bei Abu Simbel in der Nähe der Grenze zum Sudan, durchfließt der Nil den zehnten und letzten Staat, bevor er ins Mittelmeer mündet. „Ägypten ist für die Ägypter neu gewonnenes Land und ein Geschenk des Flusses“, sagte der griechische Historiker Herodot.

Tatsächlich: An manchen Stellen liegen nur wenige Kilometer zwischen einer grünen Idylle und der Wüste: Wie eine schmale Oase des Lebens inmitten der Todeszone windet sich der Nil den halben afrikanischen Kontinent hinauf. Doch erst in Ägypten, wo sein Mündungsdelta ein 24.000 Quadratkilometer großes, grünes Dreieck in der Wüste hinterlässt, schuf der Fluss die Voraussetzungen für eine Ansiedlung von Nomadenstämmen, die sich zur ersten Hochkultur der Menschheit entwickelte.

Wie Vulkanschlamm den Pharaonen zur Macht verhalf

Das Reich der Pharaonen verdankt seine Existenz einer geologischen Besonderheit – und die hat ihren Ursprung 2000 Kilometer weiter südlich: in Äthiopien. Hier, wo zwei Erdplatten aufeinandertreffen, schichteten Ströme aus Lava sich immer weiter auf, erkalteten und verwitterten – zum äthiopischen Hochland mit seinen mineralstoffreichen Vulkanaschen.

Jedes Jahr zwischen Mai und August prasseln schwere Monsunregenfälle auf das Gebirge ein, Sturzfluten schwemmen den fruchtbaren Boden auf und reißen ihn mit sich. Entsprechend dunkel ist der Fluss, der durch die Regenfälle entsteht: der Blaue Nil. Nach zwei Wochen erreicht dieses Wasser Ägypten. Als die Ägypter feststellten, dass der Nil jedes Jahr über die Ufer tritt und nährstoffreichen Nilschlamm hinterlässt, entwickelten sie ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem für ihre Felder.

Ihnen kam zugute, dass die Flussufer des Nils höher liegen als das umliegende Land. Sie unterteilten also ihre Felder in Abschnitte und öffneten nach und nach die Schleusen. Gefährlich sind diese Fluten nicht: Der Nil wälzt sich hier im Schritttempo durch sein Bett. Der Schlamm hat also genügend Zeit, sich auf den Feldern abzusetzen, bevor das Wasser wieder abfließt.

Gesetz 3: Nur die Erdkruste ist stärker

Wo Nil-Schiffer auf Granit beißen

Nur wenige dieser sechs Katarakte sind mit dem Schiff passierbar, und wenn, dann nur bei Hochwasser. Die große Biegung und die Katarakte sind Ergebnisse der unruhigen Plattentektonik Afrikas: Hier hebt sich die Afrikanische Platte ständig, der Fluss trifft auf den harten Granit aus der Erdkruste, der sich auch vom Sediment nicht abwaschen lässt, und muss deshalb einen Umweg machen.

Gesetz 4: Wer den Nil hat, hat die Macht

Insgesamt 300 Millionen Menschen leben am Nil, zehn Anrainerstaaten erheben Anspruch auf die Lebensader in der Wüste. Die haben Ägypten und der Sudan aber bereits 1959 in einem Zweier-Abkommen untereinander aufgeteilt. Ägypten bewilligt sich selbst jährlich 55,5 Milliarden von insgesamt 84 Milliarden Kubikmetern Wasser.

Warum der Strom für Äthiopien tabu ist

In der „Nile Basin Initiative“ (NBI) soll eine Einigung zwischen den zehn Nil-Staaten erzielt werden – bislang ohne Erfolg. Ägypten und Sudan beharren auf ihren Rechten. Das trifft besonders Äthiopien, das mit dem Blauen Nil das meiste Nilwasser stellt, derzeit aber gerade mal ein Prozent davon nutzen darf. Für den Fall, dass das bitterarme Land auf mehr besteht, droht Ägypten mit Krieg.

Gesetz 5: Auch Mächtige sind verwundbar

Eine der Quellen des Nils: Vom äthiopischen Tanasee aus fließt der wasserreiche Blaue Nil in Richtung Westen. Doch so mächtig der Nil auch scheint, so sehr ist er globalen Einflüssen ausgesetzt: An seiner Mündung fließen pro Sekunde gerade einmal 2832 Kubikmeter pro Sekunde ins Mittelmeer – das sind hundert Mal weniger als beim Amazonas. Entsprechend verwundbar bleibt der Nil.

Wie Eisberge dem Nil Wasser abgraben

Vor etwa 17.000 Jahren, so errechneten britische Forscher, war der Fluss fast völlig ausgetrocknet. Auslöser waren ausgerechnet abbrechende Eisberge in der Arktis, die so viel Süßwasser im Atlantik freisetzten, dass Meeresströme  durcheinandergerieten. Folge: Weniger Wärme wurde aus dem Atlantik abgeführt, Westwinde und damit auch Monsunregen blieben aus – der Nil versiegte fast. Ein Vorgang, der sich auch in Zukunft wiederholen könnte.

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