Welt der Wunder

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Die Māori: Neuseelands selbstbewusste Ureinwohner

Die Māori, die Ureinwohner Neuseelands, sind Kämpfer. Über viele Jahrhunderte führten sie blutige Stammeskriege um Ländereien und knappe Ressourcen. Durch ihren Stolz und ihre Wehrhaftigkeit sind sie heute aber auch das wohl am besten gesellschaftlich integrierte indigene Volk der Welt.

Es ist ein furchteinflößendes Bild. Muskelbepackte Männer schlagen sich mit beiden Händen auf die Brust, auf die Oberschenkel, alle im Gleichtakt, als Einheit. Ihre Mienen sind finster, die Augen weit aufgerissen. Mit dröhnendem Sprechgesang versuchen sie, ihre Gegner einzuschüchtern. Die herausgestreckte Zunge bedeutet: Ich fresse dich mit Haut und Haaren. Es ist eine Demonstration von Stärke und Entschlossenheit. Doch diese archaisch anmutende Szene spielt sich nicht in grauer Vorzeit ab, irgendwo im Urwald – sondern auf dem lichtdurchfluteten Spielfeld eines Rugby-Stadions. Die All-Blacks, die Nationalmannschaft Neuseelands, eröffnen ihr Spiel mit dem Haka, dem traditionellen Kriegstanz der Māori.
 
Die Māori, die Ureinwohner Neuseelands, waren schon immer Kämpfer. Schon lange vor der Ankunft der Europäer lieferten sie sich erbitterte Schlachten um Nahrung und Ländereien. Anders als die nordamerikanischen Indianerstämme und die australischen Aborigines konnten sich die Māori erfolgreich gegen die weißen Eroberer durchsetzen. Deshalb sind sie heute die wohl am besten gesellschaftlich integrierte indigene Bevölkerung der Welt. Dennoch leiden sie aber bis heute unter der einstigen Unterdrückung und Verdrängung durch die Europäer und noch immer ist ihr Leben von Benachteiligung und eingeschränkter politischer Einflussnahme geprägt.

Das vergängliche Paradies

Vor rund achthundert Jahren erreichen die Māori Neuseeland. In großen Kanus waren sie auf ihren Entdeckungsreisen viele Tausend Kilometer über den Pazifischen Ozean gereist. Woher sie kamen, weiß niemand so genau: Ihre Heimatinseln, die sie Hawaiki nannten, könnten das heutige Samoa oder die Cook-Inseln gewesen sein. Viel wichtiger als der genaue Ort ist den Māori aber die mythologische Bedeutung ihrer Herkunft. Hawaiki gilt als Quelle spiritueller Kraft und Sinnbild für den Ursprung des Lebens. Als der sagenumwobene Entdecker Neuseelands, Kupe, das Land zum ersten Mal erblickt, nennt er es Aotearoa, das Land der langen weißen Wolke. Anfangs erscheint es den Polynesiern wie ein Paradies, denn es gibt Nahrung im Überfluss. Vor allem die riesigen, bis zu dreieinhalb Meter großen und 250 Kilogramm schweren Moa-Vögel sind leichte Beute. Die neuen Bewohner unterschätzen jedoch die Verletzlichkeit des Ökosystems – mit dramatischen Folgen: Schon einige Jahrzehnte nach ihrer Ankunft haben die Māori die Moas vollständig ausgerottet. Dadurch wird die Nahrungssuche immer schwieriger. In ihrer Not erbeuten die Menschen Lebensmittel von benachbarten Stämmen und versuchen, so viel Land wie möglich zu kontrollieren. Der Krieg wird zur Überlebensstrategie.

Kulturelle Entwicklung

Der Kampf ums Überleben hat aber auch viele positive Entwicklungen zur Folge: Um Menschen und Vorräte vor Überfällen zu schützen, werden Festungen gebaut. Diese Pā sind Dörfer in strategisch günstiger Lage, etwa auf einer Hügelkuppe, die von mächtigen Zäunen aus angespitzten Baumstämmen umgeben sind. Mit diesen Forts entwickeln die Māori nicht nur Taktiken der Verteidigung und Kriegführung, sondern auch den landwirtschaftlichen Ackerbau. Die Pā-Bewohner roden die umliegenden Wälder und pflanzen Süßkartoffeln, Kumara, an. Bestimmte Orte und Tierarten erklären die Stammesältesten für tapu, also tabu, im Sinne von heilig und verboten; ein Wort, das seinen Ursprung in der polynesischen Sprache hat. Diese frühe Form des Naturschutzes dient der nachhaltigen Sicherung der eigenen Lebensgrundlagen.
 
In dieser Zeit der Stammeskonflikte entwickeln sich viele prägende Elemente der Māori-Kultur, etwa der Kriegstanz und die Begrüßungsrituale zwischen benachbarten Stämmen. Auch die Schnitzkunst und Schmuck aus kostbarer, dunkelgrüner Jade, pounamu, gewinnen an Bedeutung. Beides ist Ausdruck von Prestige und Stolz. Die reich verzierten Versammlungshäuser, die so genannten Marae, sind das soziale und kulturelle Zentrum der Māori. Sie sind Tempel, Festsaal und Parlament in einem. Hier trifft sich der gesamte Clan zu politischen Debatten, Hochzeiten und Begrüßungszeremonien. Es ist ein Ort, an dem die Menschen ihre Vorfahren verehren, Respekt und Achtung anderen gegenüber zum Ausdruck bringen und die eigene Identität verinnerlichen und ausleben.

Ein neuer Feind: die Pākehā

Schließlich, im späten 17. Jahrhundert, entdecken die Europäer Abel Tasman und James Cook Neuseeland – und nur wenige Jahrzehnte später werden Walfänger, Robbenjäger und christliche Missionare hier sesshaft. Zunächst leben die Völker friedlich zusammen, und das hat Vorteile für die Māori: Sie profitieren unter anderem von den Fortschritten in der Landwirtschaft und der verbesserten medizinischen Behandlung. Aber die Neuankömmlinge bringen auch Krankheiten wie Grippe und Masern mit, denen Tausende zum Opfer fallen, weil sie keinerlei Abwehrkräfte dagegen haben. Und die Europäer importieren Feuerwaffen, mit denen sich die Māori untereinander töten: In den Musketen-Kriegen zwischen 1805 und 1843 sterben rund 50.000 Ureinwohner. Während der ersten fünfzig Jahre nach der Ankunft der Europäer kommt etwa die Hälfte der ursprünglichen indigenen Bevölkerung ums Leben. Je mehr Europäer in Neuseeland bleiben und Land für sich beanspruchen, desto schwieriger wird das Verhältnis zwischen Māori und den Pākehā, den „Besuchern, die kamen und nicht wieder gingen“. Aufgrund der traditionellen Stammesfehden fehlt den Ureinwohnern der notwendige Zusammenhalt. Deshalb gelingt es den Einwanderern, immer mehr Ländereien zu besetzen oder einzelnen Stämmen abzukaufen – auch solche, die gar nicht zu ihrem eigenen Grundbesitz gehören. 

Der Vertrag von Waitangi

Es
ist ein beeindruckender Anblick: Am 6. Februar 1840 versammeln sich fast einhundert Māori-Häuptlinge aus vielen Teilen des Landes vor der Residenz des britischen Offiziers James Busby. Sie tragen prachtvolle Gewänder aus Vogelfedern und geflochtenem neuseeländischen Flachs, kunstvoll geschnitzte Speere, Schmuck aus Jade und Walknochen. Ihre aufwändigen Mokos, die traditionellen Gesichtstätowierungen, zeugen von ihrem Rang und ihrer Stammeszugehörigkeit. Ihnen gegenüber stehen, ebenso herausgeputzt, britische Offiziere in dekorierten Uniformen. Vor ihnen, auf einem Tisch: die englische Flagge, darauf ein wichtiges Stück Papier. Es ist der Vertrag von Waitangi, der die Ansprüche der Māori auf Grundbesitz und Landnutzung anerkennt, ihnen die Bürgerrechte Großbritanniens verleiht und die Staatshoheit an die englische Krone überträgt. Über viele Stunden ziehen sich die Verhandlungen hin. Die Stammesanführer diskutieren hitzig untereinander und die Übersetzer haben alle Hände voll zu tun, den Offizieren das Gesprochene verständlich zu machen. Ein grimmig dreinschauender Häuptling tritt vor und stellt die Engländer zur Rede: Mit welchem Recht erhebt ihr Europäer Anspruch auf die Regierung unseres Landes? Was haben wir davon, wenn wir euren Vertrag unterzeichnen? Und welche Vorteile versprecht ihr euch davon?

Gewalt und Unterdrückung

Der Vertrag von Waitangi gilt schließlich als großer Erfolg. Doch wie so oft liegt der Teufel im Detail: Die in Englisch und Māori geschriebenen Versionen des Vertrages unterscheiden sich zum Beispiel in den verwendeten Begriffen für die Souveränität über das Land. Während aus der britischen Perspektive alle Macht an das englische Königshaus abgetreten werden soll, sind die Māori der Auffassung, sie würden lediglich die Regierung des Staates an die Engländer abtreten, ohne Einmischung in ihre eigenen Angelegenheiten. Und: Die Europäer brechen den Vertrag immer wieder. So kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Konflikten, die bis heute andauern. Im Jahr 2010 waren nur noch rund sechs Prozent der gesamten Landfläche in Māori-Besitz. Jedes Jahr zum Waitangi Day, einem gesetzlichen Feiertag in Neuseeland, gibt es Proteste von Māori-Gruppierungen, die ihre Frustration über die gesellschaftliche Benachteiligung sowie über ausbleibende Kompensationen für die Landnahme zum Ausdruck bringen. Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Pākehā, die glauben, der indigenen Bevölkerung werde ständig Geld hinterhergeworfen. Dabei wird nicht gezögert, deren Kultur für den Tourismus zu vermarkten, einer Industrie, die der neuseeländischen Wirtschaft 63 Millionen Dollar beschert – am Tag. 

Das neue Selbstbewusstsein

Dass sich die Māori bis heute ihre kulturelle und spirituelle Identität bewahren konnten, ist vor allem ihrem Stolz und ihrer Wehrhaftigkeit zu verdanken. Hätten sich die Kolonialisten durchsetzen können, wäre die Māori-Kultur vermutlich innerhalb weniger Generationen ausgelöscht worden. Ihre Sprache, Te Reo Māori, wurde in den Schulen verboten und ihr Gebrauch war von 1867 bis in die1960er Jahre sogar strafbar. Das hat dazu geführt, dass nur vier Prozent der Neuseeländer und etwa jeder vierte Maori heute fließend Te Reo sprechen. Erst seit 1987 ist sie neben Englisch offizielle Amtssprache Neuseelands. Mittlerweile gibt es zahlreiche Förderprogramme, Ansprachen oder Begrüßungszeremonien zu offiziellen Anlässen auf Te Reo, sowie Radio- und Fernsehsender, deren Programm ausschließlich in der Sprache der Māori ausgestrahlt wird. 
 
Mittlerweile kann man aber das kulturelle Erbe und die Geschichte der Māori an den neuseeländischen Bildungseinrichtungen studieren, die Sprache wird an vielen Schulen gelehrt und die traditionelle Begrüßungszeremonie, die Pōwhiri, ist weit mehr als ein Höhepunkt des Animationsprogramms für Touristen, sondern wesentlicher Bestandteil von internationalen Konferenzen und Eröffnungsveranstaltungen. Vor allem beim Sport finden alle Neuseeländer zusammen, denn im Wettkampf gegen die Mannschaften anderer Länder begreifen sie sich als Einheit. Die Neuseeländer vergöttern ihr Rugbyteam, die All Blacks. Sie bewundern den traditionellen Kriegstanz zur Eröffnung des Spiels, der zu ihrem Markenzeichen geworden ist – und damit zum Markenzeichen des Landes. In solchen Momenten vergessen sie, ob sie Māori sind oder Pākehā, die weißen „Besucher, die kamen und nicht wieder gingen“. In diesem Augenblick gehören sie alle hierher, in das kleine Land am Ende der Welt. 
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