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Was sich beim Tourette-Syndrom im Gehirn abspielt

Foto: Envato / FoToArtist_1

Was sich beim Tourette-Syndrom im Gehirn abspielt

Sie wirken so normal wie alle anderen. Doch plötzlich zucken ihre Glieder, brüllen sie los, fangen sie an wüst zu schimpfen – ohne dass sie es wollen. Diese Menschen leiden am so genannten Tourette-Syndrom.

Eigentlich ist Nikolai wie jeder andere und genauso intelligent. Doch manchmal tickt etwas in seinem Gehirn nicht richtig – und plötzlich zuckt sein Kopf, zwinkert sein Auge, schneidet sein Gesicht Grimassen. Manchmal schreit Nikolai – obszöne Worte kommen aus seinem Mund, ohne dass er Einfluss darauf hat. Sie müssen raus – wie unter Zwang.

Unterdrücken kann er die Tics nicht. Sie kommen und gehen, wann sie wollen. In der Medizin wird diese neuropsychiatrische Erkrankung als „Tourette-Syndrom“ bezeichnet. Der Name stammt von dem französischen Nervenarzt Dr. Georges Gilles De la Tourette, der dieses Krankheitsbild 1825 erstmals beschrieb.

Tourette-Syndrom – was ist das?

Nicolai selbst beschreibt seine Tic-Erkrankung so: „Man muss sich vorstellen, dass sich in einem sozusagen ein ES befindet. Ein Druck baut sich im Körper auf, wird immer stärker, bis man ihn irgendwann entladen muss – durch einen Schrei, durch Zuckungen, das ist vergleichbar mit einem Schluckauf. Man merkt, wie es kommt, man kann es kurz unterdrücken, aber dann muss es raus.“

Das Tourette-Syndrom (TS) ist eine neuropsychiatrische Erkrankung, die durch motorische und vokale Tics charakterisiert ist. Viele – aber nicht alle – Tourette-Patienten leiden zusätzlich unter zwanghaften Verhaltensweisen. Wie Nikolai: Wenn er ein dünnes Glas in der Hand hat, muss er es zerdrücken. Gegen diesen Zwang kann er sich nicht wehren – trotz der Gefahr, sich zu verletzen.

Diese Tics und Zwänge sind von Mensch zu Mensch verschieden. Und sie kommen in unregelmäßigen Abständen. Die Häufigkeit und Stärke der Tics ändert sich periodisch. Manchmal verschwinden sie sogar für kurze Zeit und treten dann ganz plötzlich wieder auf. Nur etwa ein Prozent der Tourette-Patienten ist auch von der so genannten „Koprolalie“ betroffen: dem Zwang, obszöne Wörter auszustoßen.

Das Tourette-Syndrom tritt meist erstmals um das siebte Lebensjahr auf, verstärkt sich in der Pubertät und nimmt mit zunehmendem Alter wieder ab. Jeder Tausendste ist von dieser Nervenkrankheit betroffen. Bei Männern kommt sie drei Mal häufiger vor als bei Frauen. Doch niemand weiß, warum.

Die Harvard Brain Bank

Die Harvard Brain Bank ist das größte Archiv menschlicher Gehirne auf der Welt. Über viertausend werden hier für wissenschaftliche Zwecke gelagert. Doch die Gehirne von Tourette-Patienten sind sehr selten. Mit viel Glück bekommt die Brain Bank eines pro Jahr.

Um mehr über die Nervenkrankheit zu erfahren, frieren Wissenschaftler das Kernstück des Gehirns, die so genannten Basalganglien, in Trockeneis ein. Diese End- und Zwischenhirnkerne sind Schaltstationen des Nervensystems – vergleichbar mit Telefonvermittlungen und verantwortlich für die Motorik. Die Neurologen vermuten, dass die Krankheit hier ihren Ursprung hat.

Von dem eingefrorenen Gehirnkernstück schaben sie dünne Scheiben von 1/20 Millimeter Dicke nacheinander ab, um die Basalganglien genauer studieren zu können. Jede Scheibe legen sie in eine Speziallösung. So können sie untersuchen, welche Chemikalien in welcher Konzentration in ihnen enthalten sind.

Die Wissenschaftler suchen nach Chemikalien, die zu den Neurotransmittern zählen und für die Kommunikation zwischen den Nervenzellen notwendig sind. Ein für sie besonders interessanter Neurotransmitter ist das Dopamin. Dieser Botenstoff ermöglicht das Ausleben von Verhaltensweisen. Aber in den Gehirnen von Tourette-Patienten scheint er unkontrolliert ausgeschüttet zu werden und so die Tics und unwillkürlichen Bewegungen zu verursachen.

Bei Gesunden verteilt sich das Dopamin gleichmäßig. Bei Tourette-Kranken hingegen ist die Konzentration in bestimmten Bereichen extrem erhöht. Wenn die Wissenschaftler herausfinden, wie, wo und warum sich das Dopamin so schlecht verteilt, könnten sie neue Therapien und Medikamente entwickeln, die weniger Nebenwirkungen haben als die Präparate, die momentan auf dem Markt sind.

High im Dienste der Forschung

In einer Welt, in der unkontrollierbare Tics für die Gesellschaft nicht akzeptabel sind, verstecken manche Tourette-Betroffenen ihre Symptome mithilfe von Medikamenten. Doch diese sogenannten Neuroleptika haben oft Nebenwirkungen zur Folge. Auch Nikolai hat das richtige Medikament für sich noch nicht gefunden. Bis jetzt zieht er die Tics den Nebenwirkungen vor.

In Deutschland haben Neurologen an der Medizinischen Hochschule in Hannover eine neue Therapieform getestet. Sie basiert auf einer altbekannten, doch weiterhin umstrittenen Droge: der Cannabispflanze. Tourette-Patienten berichteten, nach dem Gebrauch von Cannabis weniger Tics oder sogar gar keine mehr gehabt zu haben.

Marihuana ist in den meisten Ländern illegal. Doch sein Wirkstoff THC (Tetrahydrocannabinol) ist legal und in Form von Tabletten oder Tropfen erhältlich. Wie THC die Symptome kontrolliert, ist noch nicht ganz klar. Möglicherweise wirkt der Stoff an speziellen Nervenrezeptoren im Gehirn.

Kiffen für die Wissenschaft

Um mehr darüber herauszufinden, wie THC im Gehirn wirkt, führte die Medizinische Hochschule Hannover 2016 eine placebokontrollierte Studie mit 24 Probanden durch, geleitet von der Medizinerin Dr. Kirsten Müller-Vahl. Einer der Teilnehmer an dieser Cannabis-Studie war auch Nikolai.

Damit die Forscher einen Blick in sein Gehirn werfen konnten, spritzten sie Nikolai eine radioaktive Flüssigkeit. Mithilfe dieser sogenannten Spect-Untersuchung war es den Ärzten möglich festzustellen, wie viele Rezeptorstellen es für Cannabis gibt und wo sich diese befinden.

Seit ungefähr zehn Jahren weiß man überhaupt, dass es solche Bindungsstellen für Cannabis und Cannabis-Medikamente im Gehirn gibt. Zunächst wurden entsprechende Untersuchungen an Leichen und auch an Tieren durchgeführt. Erst die Medizinische Hochschule Hannover hat weltweit das erste Mal am lebenden Menschen eine Methode entwickeln und durchführen können, mit der man eben diese Bindungsstellen im Gehirn sichtbar machen kann.

In den nächsten Jahren wollen die Mediziner mit dieser Technik weitere Personen und auch Patienten untersuchen, um herauszufinden, welche Bedeutung dieses System hat und ob es spezielle Krankheiten gibt, bei denen eine Störung in diesem System vorliegt.

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