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Die geheimen Gesetze einer Geiselnahme

Foto: Imago / Olaf Wagner

Die geheimen Gesetze einer Geiselnahme

Horrorszenario Geiselnahme: Wenn das Unglaubliche geschieht, ist es zu spät, sich darauf vorzubereiten. Was sollte man als Geisel nie tun? Und mit welcher Taktik kommt man am ehesten mit dem Leben davon? Alles über die Psychologie der Täter und die Taktik der Spezialkräfte.

Der erste Hoffnungsschimmer zeichnet sich nach 144 Stunden ab – mit exakt vier Sätzen: „Sie werden alle sterben! Mir ist der Tod scheißegal, aber diese Frau hier ist erst 21 Jahre alt. Sie hat Tränen in den Augen. Und ich schwöre, ich werde ihr das Hirn rauspusten, wenn ihr nicht tut, was wir sagen!“

Der Mann, der diese Worte in den Telefonhörer schreit, heißt Ricky Wassenaar. Zusammen mit seinem Zellenkumpan Steven Coy hat er sich im Überwachungsturm des Arizona-State-Gefängnisses verschanzt. Bei ihnen sind zwei Geiseln, der Wärter Jason Auch und seine Kollegin Lois Fraley.

„Ich verstehe das“, sagt die Verhandlungsführerin Kip Rustenburg – und lächelt. Sie ist überzeugt: Diese vier Sätze sind eine gute Nachricht. Die Täter werden aufgeben. „Wassenaar ist emotional zu sehr an die Geisel Lois Fraley gebunden. Er teilt uns ihr Alter mit, schildert ihren Zustand“, erklärt Hostage Negotiator Rustenburg. „Eigentlich will er damit Druck aufbauen, unbewusst aber hat er angefangen, diese Frau als Menschen mit Gefühlen zu betrachten, den er nicht mehr einfach ausschalten kann.“ Rustenburgs Optimismus speist sich aus ihrer Erfahrung. Sie weiß: Wenn sie sich an die Gesetzmäßigkeiten der Geiselnahme hält, kann nichts mehr passieren: Aber wie lauten diese Regeln? Was genau muss man bei einer Verhandlung beachten?

Emotionale Überreaktion

„Solange ein Geiselnehmer redet, wird er niemanden umbringen“, erklärt Negotiator George Kohlrieser, der sich viermal gegen eine Geisel austauschen ließ – und damit selbst zu einer wurde. „Active listening“, aktives Zuhören, nennen Verhandlungsspezialisten die Technik, die auch Rustenburg anwendet. „Gerade Geiselnehmer, die aufgrund einer emotionalen Überreaktion in die Situation geraten sind, haben das Bedürfnis, zu reden.

Das gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit in dem ganzen Chaos“, sagt Kohlrieser. Gleichzeitig verschafft es den Beamten Zeit – eine der wichtigsten Voraussetzungen, damit weder Geiselnehmer noch Spezialkommando überreagieren. Tatsächlich belegen Studien: Ein Mensch, dem zugehört wird, lässt schneller andere Standpunkte zu, akzeptiert Gegenvorschläge. Die Zeit spielt vor allem in den ersten 30 Minuten eine entscheidende Rolle – verläuft diese Phase ohne Exekutionen, wie im Fall von Wassenaar und Coy, steigt die Chance, die Situation friedlich zu lösen, mit jeder weiteren Stunde um einige Prozent.

Verhandlungsgeschick rettet Menschenleben

Zudem kann das Team um den Verhandlungsführer entscheidende Informationen über den Geiselnehmer sammeln und auswerten. So wird Rustenburg, wie jeder Negotiator, von einem sogenannten Coach unterstützt. Er protokolliert alle Gespräche, notiert Details und Auffälligkeiten.

Parallel dazu beschafft ein sogenannter Floater Hintergrundinformationen, spricht mit Angehörigen, Freunden, Ärzten des Geiselnehmers und erstellt entsprechende Psycho-Profile, die er dem Negotiator zukommen lässt. Mithilfe dieser Informationen kann der Verhandlungsführer, der als Einziger mit dem Geiselnehmer spricht, noch besser auf ihn eingehen. Die mit Abstand wichtigste Negotiator-Regel lautet jedoch: Der Geiselnehmer darf nicht entkommen. 

„Contain and isolate“ ist das oberste Gebot – eingrenzen und isolieren. Das gilt um jeden Preis, selbst dann, wenn es eine oder mehrere Geiseln das Leben kostet. Denn: Ein entkommener Geiselnehmer kann viele weitere Leben gefährden. Kip Rustenburg hat sich an all diese Regeln gehalten. Nach tagelangen Gesprächen geben die Geiselnehmer auf – ohne dass auch nur ein Schuss gefallen ist.

„Am Ende haben sie die geforderte Pizza bekommen, ein paar Kopfschmerztabletten und das Versprechen, in Gefängnisse verlegt zu werden, die näher an ihren Heimatorten liegen“, sagt Rustenburg. „Dafür haben sie ihre Waffen herausgerückt, die Geiseln und letztlich auch sich selbst. Ein guter Deal.“

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