Welt der Wunder

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Kernkraftwerk-Schornsteine

Foto: Envato / Twenty20photos

Wie sicher sind Atomkraftwerke der nächsten Generation?

Sind sie der Schlüssel zum Klimaschutz? Eine neue Generation von Atomkraftwerken verspricht einen risikofreien Betrieb.
  • Druckwasser- und Siedewasserreaktoren als Auslaufmodelle
  • Forschungsverbund Generation IV International Forum (GIF)
  • Neue Technologien mit neuen Brennstoffen
  • China macht den ersten Schritt

Nicht nur der Wunsch nach einer emissionsfreien Energiewirtschaft lässt wieder Forderungen nach der fortgesetzten Nutzung von Atomkraft aufkommen. Seit der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine eine Energiekrise heraufbeschworen hat, wird in Deutschland der Ruf lauter, auf Kernenergie zurückzugreifen. Während hierzulande weiterhin ein kategorisches Nein gilt, arbeiten andere Länder mit Hochdruck an inhärent sicheren Atomkraftwerken der vierten Generation. Zuletzt gab es aus China aufsehenerregende Neuigkeiten.

Keine deutsche Rückkehr zur Kernenergie

Das Meinungsforschungsinstitut Insa hat im Juni 2022 im Auftrag der Bild eine repräsentative Umfrage zur möglichen Verlängerung der Laufzeiten deutscher Atomkraftwerke durchgeführt. 50 Prozent von 1001 Befragten halten demnach eine Rückkehr zur Atomkraft für sinnvoll, 35 Prozent lehnen dies ab. Ähnlich verteilt sind die Vorbehalte gegen die Risiken bei der Erzeugung von Atomstrom: 53 Prozent geben an, keine Angst davor zu haben. Einen Neubau von Atomkraftwerken lehnen ebenfalls 53 Prozent der Umfrageteilnehmer ab. Etwas paradox ist die absolute Mehrheit von 56 Prozent, die Angela Merkels Entscheidung für den Atomausstieg 2011 für richtig hält.

Ende 2022 sollen die letzten drei deutschen Kernkraftwerke – Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 – abgeschaltet werden. Ein Weiterbetrieb ist finanziell wie technisch nicht machbar. Von dieser Erhebung abgesehen, gibt es in Deutschland ein ausgeprägtes mediales Desinteresse am Thema Atomkraft. Was hierzulande mit einem Tabu belegt ist, wird rund um den Globus heiß diskutiert und erforscht. Die Folge sind womöglich bahnbrechende Fortschritte auf dem Weg zu einer neuen Form der Kernkraftnutzung, die mit vielen Problemen der Vergangenheit aufräumt.

Die Risiken wiegen schwer

Wenn von Atomkraftwerken die Rede ist, sind meist Reaktoren der Generation II gemeint. Dabei handelt es sich zumeist um Druckwasser- oder um Siedewasserreaktoren. Kraftwerke der Generation III sind hauptsächlich Weiterentwicklungen dieser thermischen Technologien, bei denen die durch die Kernspaltung von Uran gewonnene Wärmeenergie auf Wasser als Trägerelement übertragen wird. Der dabei entstehende Wasserdampf treibt eine Dampfturbine zur Stromerzeugung an.

Die Risiken dieser Technologie sind Allgemeinwissen: Durch Störfälle kann radioaktives Material in größeren Mengen in die Umwelt gelangen. Beim Ausfall der Kühlung schmilzt der Reaktorkern und zerstört sich selbst – was ebenfalls zum Austritt von Radioaktivität führen kann. Ein weiteres Problem ist die Endlagerung. Die nicht mehr nutzbaren Brennelemente können nach heutigem Stand der Technik nicht zuverlässig sicher über sehr lange Zeiträume gelagert werden.

Außerdem besteht die Gefahr von Terror- oder Cyberangriffen, die Atomkraftwerke in den Vernichtungsmodus bringen könnten. Ein Menetekel für diese Gefahren ist die Reaktorexplosion im Atomkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986, als nach der Simulation eins Stromausfalls wegen Verletzung von Sicherheitsvorschriften und auch bauartbedingt die Leistung des Reaktors unkontrolliert anstieg und sich nicht mehr regulieren ließ.

Generation IV: Für größtmögliche Sicherheit und mehr Nachhaltigkeit

Aber lässt sich Atomkraft nicht auch ohne Risiko nutzen? Weltweit gibt es Forschungsprojekte, die nach Lösungen für deutlich mehr Sicherheit suchen. So hat sich der Forschungsverbund Generation IV International Forum ehrgeizige Ziele für eine neue Generation von Atomkraftwerken gestellt: Künftige Anlagen sollen sicher vor schweren Reaktorschäden, Bränden und Terrorangriffen sein – und wenn möglich ohne Uran-Anreicherung für den Betrieb auskommen. Was die Optimierung der Nachhaltigkeit betrifft, wird eine Nutzung von alternativen Brennstoffen wie Thorium sowie die Minimierung von radioaktiven Abfällen und eine Reduzierung der Endlagerzeit angestrebt.

Die Teilnehmerliste des Forums liest sich wie das „Who’s Who“ der wichtigsten Industriestaaten. Sogar Deutschland ist indirekt über seine Mitgliedschaft in der Europäischen Atomgemeinschaft vertreten. Nun gibt es auch viele andere Organisationen, die sich hehren Zielen verschrieben haben. Welche konkreten und vor allem: welche realisierbaren Lösungen liegen vor oder stehen in Aussicht?

Viele Zeichen deuten auf Flüssigsalz-Technologie

Wer die Zukunftslabore für eine fortschrittliche Nutzung der Kernkraft sucht, kommt am Silicon Valley nicht vorbei. Mehr als 50 Start-ups haben dort ihren Sitz. Sie haben sich in erster Linie der Entwicklung kleiner Reaktoren verschrieben. Diese Reaktoren soll statt angereichertem Uran nicht waffenfähiges Natururan als Brennstoff dienen. Das vielleicht bekannteste dieser Unternehmen ist TerraPower, das seinen Ruf als Kernkraft-Avantgarde nicht zuletzt der Förderung durch Bill Gates verdankt. Längst kursiert das Schlagwort von der „Bill-Gates-Atomkraft“. Das Generation IV International Forum hat eine Roadmap erstellt, die sechs neue Reaktortypen als besonders zukunftsfähig einstuft, etwa den Höchsttemperaturreaktor und auch schnelle natrium- oder bleigekühlte Reaktoren.

Erfolgversprechender ist aber wohl die Flüssigsalz-Reaktortechnologie. TerraPower, das Berliner Institut für Festkörper-Kernphysik und weitere Kompetenzzentren forschen an der Verwendung flüssiger Salze als Brennstoffträger. Ein heißer Flüssigsalzkreislauf fließt dabei sehr langsam durch den Graphitkern des Reaktors. Mit schnellen Neutronen lassen sich bei diesem Verfahren auch Aktinide spalten, die bei herkömmlichen Kernkraftwerken als Atommüll für Millionen Jahre aus dem Verkehr gezogen werden müssten. Die Salze dienen nicht nur als Mittel zur Beförderung des Brennstoffs, sondern auch als Kühlmittel. Sollte die Kühlung ausfallen oder die Temperatur anderweitig zu hoch werden, schmilzt ein wassergekühltes Ventil unter dem Reaktor durch. Daraufhin würde das Salz wegen der Schwerkraft in gekühlte Tanks laufen, was das Entstehen einer kritischen Masse verhindert. Der Reaktorkern ist bei dieser Technologie bereits geschmolzen. Damit entfällt das Risiko einer Kernschmelze. Ein Gau ist ausgeschlossen – bei Lecks oder Havarien würde aber auch kein radioaktiver Dampf in die Atmosphäre gelangen.

Eine Fußnote der Geschichte

Bereits in den 1950er Jahren  waren Flüssigsalzreaktoren Forschungsgegenstand. Damals herrschte Kalter Krieg. Und mit Uranbrennstäben in Siedewasserreaktoren ließ sich nun einmal am besten waffenfähiges Plutonium produzieren, was den Ausschlag gegeben haben könnte, diese Technik im großen Stil auszubauen.

Thorium für Atomkraft ohne Risiko

Das Flüssigsalz-System hat viele Befürworter. Was nun das Brennmaterial betrifft, spricht einiges für Natururan – noch mehr jedoch für Thorium. Dieses silberweiße Metall ist in der Erdkruste wesentlich häufiger zu finden als Uran. Nach Berechnungen des italienischen Physiknobelpreisträges Carlo Rubbia könne bei einem Einsatz in Kernkraftwerken davon ausgegangen werden, dass ein Kilogramm Thorium das 200-fache an Energie liefern würde, als ein Kilogramm Uran leisten kann.

Auch zur möglichen Größe von Kernkraftwerken der Zukunft gab es in letzter Zeit überraschende Nachrichten. Das amerikanische Unternehmen Hyperion sorgte für Aufmerksamkeit, als es den Bau von Mini-Atomreaktoren im Untergrund ankündigte. Diese würden im Erdreich vergraben sein und jeweils rund 10.000 Haushalte wartungsfrei über mehrere Jahre mit Atomstrom und Wärme versorgen können. Weitere Firmen arbeiten an ähnlichen Konzepten. Diese sogenannten Small Modular Reactors (SMR) machen Kernschmelzen unmöglich und sind eine Chiffre für saubere Atomkraft. Einige derzeit geplante Lösungen arbeiten mit konventioneller Druckwasser-Technologie. Aber anders als bei großen Atomkraftwerken erhält die natürliche Zirkulation des Systems den Betrieb aufrecht – keine anfälligen Kühlkreisläufe, keine Motoren oder andere gefährdeten mechanischen Komponenten wie Pumpen und auch kein Strombedarf.

China macht den ersten Schritt

Während in den USA und anderswo noch langwierige Genehmigungsverfahren laufen, werden in China Nägel mit Köpfen gemacht. Auch im Reich der Mitte wird über Alternativen zum klassischen Fusionsreaktor nachgedacht. Im Herbst 2021 war es so weit: Vor der staunenden Weltöffentlichkeit wurde der Bau des Prototyps eines Flüssigsalz-Reaktors mit Thorium-Brennstoff angekündigt. Dieses Projekt folgt den Ideen der SMR-Technologie. Der Reaktor ist nur 3 Meter hoch und 2,50 Meter breit – nicht viel größer also als ein US-amerikanischer XXL-Kühlschrank. Hinzu kommen Turbinen für die Stromerzeugung und ein Netzanschluss. Das Herzstück der Anlage wurde unter Reinraumbedingungen gebaut und am Einsatzort zusammengesetzt. Der kleine Reaktor ließe sich in Zukunft in Serie fertigen und als Modul bei technischen Problemen einfach gegen ein anderes austauschen. Außerdem kann er mobil eingesetzt werden.

Hier schwingt der Gedanke von Bill Gates mit, durch Hunderte solcher Mini-Kraftwerke das Energieproblem der Menschheit zu lösen und gleichzeitig das Klima zu retten. China wird aber auch strategische Exporte in strukturschwache Länder und Regionen links und rechts der neuen Seidenstraße planen, die mit solchen Lösungen Energie gewinnen, aber keine Atomwaffen bauen könnten. Gegenwärtig befindet sich der kleine Forschungsreaktor in der Testphase. Läuft alles zufriedenstellend, soll ab 2030 ein kommerziell nutzbarer Reaktor dieses Typs 100 Megawatt (MW) Strom erzeugen, der 100.000 Haushalte in Wuwei in der Provinz Gansu versorgen soll. Die besteht überwiegend aus Wüste, was jedoch wegen des geringen Wasserverbrauchs des futuristischen Kernkraftwerks kein Problem ist.

Die Chinesen könnten sich auch deshalb für Thorium entschieden haben, weil das schwach radioaktive Metall als Abfallprodukt im heimischen Bergbau von seltenen Erden zutage gefördert wird. Weltweit wird es industriell noch wenig genutzt. Uran müsste von China importiert werden. Auch andere Staaten hatten bereits Thorium als nukleares Brennmaterial getestet und es im Vergleich zu Uran als sehr kostenintensiv in der Förderung sowie bei der erforderlichen Umwandlung in spaltbares Material bewertet.

Atomkraft als klimafreundliche Alternative

An der positiven Umweltbilanz von Atomkraftwerken würde auch der Einsatz neuer Technologien nichts ändern. 2007 ermittelte die Ruhr-Uni Bochum in einer vergleichenden Studie die CO2-Emissionen der häufigsten Kraftwerkstypen. Ein Kohlekraftwerk bringt es demnach auf 750 bis 1.200 Gramm CO2 pro Kilowattstunde (g/kWh) – ein Kernkraftwerk emittiert nur 10 bis 30 g/kWh. Lediglich die Solarthermie ist noch emissionsfreier: 10 bis 14 g/kWh. Dafür müssten diese Anlagen aber auch in Afrika stehen.

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