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Machtmissbrauch und Übergriffe – das Loch in der Seele füllen

Foto: Envato / FoToArtist_1

Machtmissbrauch und Übergriffe – das Loch in der Seele füllen

Von möglichen Übergriffen gegenüber jungen weiblichen Fans bis hin zu speziell rekrutierten Groupies Frauen als Teil der Aftershow-Partys und Live-Shows – die Kontroversen um die Vorwürfe gegen Till Lindemann und seine Band Rammstein reißen nicht ab. Doch wie kommt es dazu, dass so viele Prominente der Versuchung nicht widerstehen können, ihre Machtposition im Rampenlicht zu missbrauchen?

Die Psychologie hinter der Gier nach Macht und Machtmissbrauch

Wer Macht missbraucht, bringt damit oft auch ein übermäßiges Bedürfnis nach ihr zum Ausdruck. Laut Experten ist Macht oft ein Mittel, um Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren. Je minderwertiger sich ein Mensch fühlt, desto stärker ist sein Streben nach Möglichkeiten, sich überlegen zu fühlen. Dieses Bedürfnis kann durch eine Machtposition ideal befriedigt werden.

Psychologen nehmen generell an, dass bei folgenden Persönlichkeitstypen die Tendenz zum Machtmissbrauch besonders hoch sein kann:

Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung

Menschen mit einer stark ausgeprägten narzisstischen Persönlichkeit wird eine übertriebene Tendenz zur Selbstverliebtheit, eine hohe Anspruchshaltung und ein geringes Einfühlungsvermögen in andere Menschen zugeschrieben. Sie neigen dazu, Macht als Mittel zur Demonstration der eigenen Größe zu sehen und andere zu manipulieren oder zu demütigen. Auch konstruktive Kritik wird von ihnen oft persönlich genommen und als Kränkung empfunden.

Einige Experten sind jedoch der Ansicht, dass jeder Mensch narzisstische Anteile in seiner Persönlichkeit besitzt. Diese können sich in gesunder Selbstliebe, großem Selbstvertrauen und Zielstrebigkeit äußern. Eine solche Form von Narzissmus sei nicht grundsätzlich negativ oder schädlich. Erst wenn narzisstische Züge so stark ausgeprägt sind, dass sie zu einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung (NPS) führen, werden sie nach dieser Auffassung problematisch.

Traumatisierte Menschen

Menschen, die sexuell oder auf andere Weise missbraucht wurden, können Macht als einen Weg sehen, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen. Sie können ihre Machtposition missbrauchen, um sich selbst zu bestätigen oder andere so zu verletzen, wie sie selbst in der Vergangenheit verletzt wurden. Sie können auch Machtpositionen nutzen, um eigene Ängste oder Unsicherheiten zu kompensieren oder ihre Dominanz zu behaupten.

Menschen mit Zwangsstörungen

Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung können einen übertriebenen Hang zu Perfektion, Ordnung und Kontrolle haben. In Machtpositionen können sie häufig dazu neigen, ihre Macht extrem autoritär auszuüben. Das Einfühlungsvermögen in Menschen, die sich im Machtgefälle unter ihnen befinden, fehlt ihnen oft.

Die Kulturbranche als Nährboden für Machtmissbrauch

Stars auf der Bühne zu erleben oder ihre Kunst zu genießen, gehört zu den wichtigsten Teilen der Kulturbranche. Große Namen bringen Aufmerksamkeit, verkaufen Tickets und Bücher. In der generell stark von Trends abhängigen Kulturbranche mit oft weit auseinanderklaffenden Gagen für Kulturschaffende sind verlässliche Umsatzgaranten Gold wert.

Stars werden daher generell von Veranstaltern und Verlagen hofiert und gewinnen dadurch noch weiter an Einfluss in der Branche. Das treibt teils seltsame Blüten – wie etwa, als der renommierte Verlag Kiepenheuer & Witsch zwei Gedichtbände des für seine grenzwertigen Texte berüchtigten Rammstein-Sängers veröffentlichte.

Einflussreiche Entscheider gewähren oder verweigern den Zugang zur Branche

Besonders prominente Kulturschaffende werden oft in die Position von Entscheidungsträgern erhoben. Sie können nun als „Gatekeeper“ darüber entscheiden, wer Teil ihrer Branche werden darf und wer draußen bleibt. Im schlimmsten Fall erhalten infolgedessen nur Personen mit ähnlichen Ansichten und Einstellungen Zugang zum Kultursektor.

Darüber hinaus sind die Strukturen im Kulturbereich in der Regel nicht demokratisch. An der Spitze stehen die Macher und Organisatoren, an der Basis die Ausführenden. Diese Hierarchien sind allerdings oft aus der Not geboren. Große Produktionen unter Zeitdruck wären mit einer anderen Organisation oft nicht zu realisieren. Zudem beginnen viele Kultureinrichtungen als kleine Gemeinschaften von Künstlern mit stark unprofessionellen Strukturen. Sobald sie zu wachsen beginnen und erfolgreicher werden, fehlt oft die Zeit, neben dem Tagesgeschäft ein niedrigeres Machtgefälle zu etablieren.

Der Popstar-Mythos – schlecht gealtert, aber nicht totzukriegen

In den 1950er und 1960er Jahren entwickelte sich die Popmusik endgültig zu einem Milliardengeschäft. Von nun an ging es um viel mehr als nur um Musik. Stattdessen drehte sich alles um die Vermarktung eines Images. Künstler wie Elvis, die Beatles und die Rolling Stones wussten zwar, wie man das Publikum begeistert. Allerdings waren die angehenden Musiker zu Beginn ihrer professionellen Karriere noch unerfahren und leicht zu beeinflussen.

Viele der jungen Stars, deren Musik den Zeitgeschmack traf, ließen sich auch durchaus gerne vermarkten, während ihre Manager im Hintergrund die Fäden zogen – scheinbar als Belohnung für die harte Arbeit auf Tournee und im Studio. Rockstars wurden als Inbegriff von Freiheit, Rebellion und Sexappeal inszeniert. Exzessive Partys und verwüstete Hotelzimmer gehörten dazu.

In den 1980er Jahren erreichte der Mythos des Popstars mit zu unantastbaren Kunstfiguren stilisierten Stars wie Michael Jackson und Madonna seinen Höhepunkt. Aufwendige Videoclips, riesige Werbebudgets und gigantische Tourneen prägten den Popstar weiter als unantastbare Größe, die kein „Nein“ als Antwort akzeptiert.

Groupies als weiteres Überbleibsel einer vergangenen Ära

Obwohl die Zeit der Megastars mit der zunehmenden Demokratisierung der Musikproduktion zu Ende zu gehen scheint, hat sich der in den 1950er Jahren entstandene Groupie-Mythos bis heute gehalten. Das Klischee, dass Machogehabe und Affären mit Groupies bei erfolgreichen Rockmusikern „einfach dazu gehören“, scheint nur schwer aus den Köpfen zu bekommen zu sein.

Vor dem Skandal um Rammstein sorgte in der jüngeren Vergangenheit unter anderem der Alternative-Rockmusiker Ryan Adams für einen handfesten Skandal. Adams wurde 2019 von sieben Frauen der sexuellen Belästigung beschuldigt.

Machtmissbrauch und Übergriffe – das Loch in der Seele füllen
Gehört die Rock-‘n‘-Roll-Tradition von Groupies und After-Show-Partys bald der Vergangenheit an? Der Fall Rammstein könnte dazu beitragen.
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Macher von „ernster Musik“ sind nicht vor Machtmissbrauch gefeit

Auch in der klassischen Musikszene sind zahlreiche Fälle von Machtmissbrauch bekannt, die oft jahrelang vertuscht wurden. Dazu gehört der Fall des weltberühmten Opernsängers Plácido Domingo, der 2020 und Anfang 2023 von mehreren Frauen beschuldigt wurde, sie sexuell belästigt oder genötigt zu haben.

Ein weiterer bekannter Fall ist Siegfried Mauser, seines Zeichens ehemaliger Rektor der Münchner Musikhochschule und Präsident des Salzburger Mozarteums. Mauser wurde 2018 und 2019 wegen sexueller Nötigung in vier Fällen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

Im Jahr 2016 sorgte der Weltklasse-Dirigent James Levine, der jahrzehntelang an der Metropolitan Opera in New York tätig war, für einen handfesten Skandal. Er wurde von mehreren Männern beschuldigt, sie als Jugendliche missbraucht zu haben.

Machtmissbrauch und Übergriffe in der Filmbranche

Filmschauspieler sind der Inbegriff des Superstars schlechthin. Der Wunsch, auf der großen Leinwand weltweit bewundert zu werden, scheint wie geschaffen für narzisstisch veranlagte Menschen. Hinzu kommt, dass Regisseure aufgrund ihrer Schlüsselposition in der Branche als Entscheider und Gatekeeper über großen Einfluss verfügen.

Bekannte Fälle von Machtmissbrauch in Hollywood reichen bis in die Anfänge der globalen Filmmaschinerie zurück. Dazu zählt der Fall des Komikers Roscoe „Fatty“ Arbuckle, der 1921 beschuldigt wurde, die Schauspielerin Virginia Rappe vergewaltigt und ermordet zu haben.

Gerade die US-amerikanische Filmbranche ist heute für zahlreiche Fälle von Machtmissbrauch bekannt. Dass diese öffentlich wurden, ist vor allem der #MeToo-Bewegung zu verdanken. Diese entstand 2017 als Reaktion auf die zahlreichen Übergriffe des Filmproduzenten Harvey Weinstein.

Machtmissbrauch und Übergriffe in Politik und Finanzen

In der Politik geht es meist um Macht – dementsprechend kommt es hier immer wieder zum Missbrauch von Machtpositionen. Zu den weltweit bekanntesten Skandalen gehört der Fall Epstein. Dieser rückte 2019 den US-amerikanischen Milliardär Jeffrey Epstein in den Mittelpunkt. Der auch politisch einflussreiche Investmentbanker soll einen internationalen Pädophilenring betrieben haben, zu dessen Kunden auch prominente Politiker wie der ehemalige US-Präsident Bill Clinton oder der britische Prinz Andrew zählten. Epstein nahm sich am 19. August 2019 in seiner Gefängniszelle das Leben.

Schlagzeilen machte auch die Affäre Strauss-Kahn. Diese brachte 2011 den damaligen Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF) und möglichen französischen Präsidentschaftskandidaten Dominique Strauss-Kahn zu Fall. Strauss-Kahn wurde beschuldigt, ein Zimmermädchen in einem New Yorker Hotel vergewaltigt zu haben. Strauss-Kahn wurde 2015 freigesprochen, seine politische Karriere war jedoch beendet.

Machtmissbrauch in der Verlagsbranche

Auch die Verlagsbranche ist eine mächtige Medieninstitution und bestimmt, was in den Buchläden oder an den Zeitungsständen ausliegt. Einer der größten Skandale der letzten Jahre ist der Fall von Julian Reichelt, dem ehemaligen Chefredakteur der von dem Axel-Springer-Verlag herausgegebenen Bild-Zeitung. Er soll zahlreiche Mitarbeiterinnen gemobbt und sexuell belästigt haben. Ebenso soll er seine journalistische Unabhängigkeit durch private Kontakte zu Politikern und Lobbyisten gefährdet haben. Reichelt wurde im Oktober 2021 von seinem Posten als Chefredakteur der Bild-Zeitung freigestellt.

Die #MeToo-Bewegung nennt die Missstände bis heute beim Namen

Die #MeToo-Bewegung geht auf den Hashtag #MeToo (auf Deutsch: ich auch) zurück, der sich ab Mitte Oktober 2017 im Zuge des Weinstein-Skandals in den sozialen Netzwerken verbreitete. Der Begriff „Me too“ geht auf die Aktivistin Tarana Burke zurück und wurde als Hashtag durch die Schauspielerin Alyssa Milano populär. Milano ermutigte betroffene Frauen, mit Tweets auf das Ausmaß sexueller Belästigung und Übergriffe aufmerksam zu machen. Seitdem wurde der Hashtag international millionenfach verwendet.

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