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Sicher ist: Ein militärischer Konflikt um Taiwan würde die derzeitige globale Krisenlage bis zur Unberechenbarkeit verschärfen

Foto: Envato / Twenty20photos

Erst die Ukraine, dann Taiwan? So realistisch ist die Kriegsgefahr in Ostasien

Nachdem Chinas Staatschef Xi Jinping demonstrativ den Schulterschluss mit Putins Russland hergestellt hat, schaut die Welt mit Sorge auf Ostasien. Droht neben dem Krieg in der Ukraine nun auch eine Invasion der Volksrepublik China in Taiwan?

Sicher ist: Ein militärischer Konflikt um Taiwan würde die derzeitige globale Krisenlage bis zur Unberechenbarkeit verschärfen.

  • Warum es zur Taiwan-Frage kam
  • Ein Staat – zwei Systeme?
  • Die USA als Garantiemacht
  • Taiwan hätte einen hohen Preis

Taiwan – die Faktenlage

Die Insel Taiwan im Pazifischen Ozean ist etwa so groß wie das Land Baden-Württemberg und hat rund 23 Millionen Einwohner. Von der Volksrepublik China auf dem asiatischen Festland trennt den Inselstaat mit dem exakten Namen Republik China die Formosastraße. An der engsten Stelle liegen etwa 130 Kilometer Ozean zwischen beiden Ländern.

Für die Volksrepublik gilt Taiwan als abtrünniger Bestandteil Chinas, dessen Unabhängigkeit nicht akzeptiert wird. Dagegen wertete Taiwans Regierung lange Jahre ihrerseits Mao Tsetungs Festlandschina als abgespalten von der älteren Republik China, deren letzte Bastion die Insel bilde.

Der Hintergrund: Als nach Ende des Zweiten Weltkriegs Taiwan aus japanischem Kolonialbesitz von den Amerikanern an die Republik China zurückgeben wurde, tobte auf dem Festland ein Bürgerkrieg zwischen der Kuomintang und den Kommunisten. Die Kuomintang unterlag und Chinas gescheiterter Staatschef Chiang Kai-shek zog sich 1949 mit seinen Anhängern auf die Insel zurück.

Taiwan wurde damit zur Heimatbasis von Gegnern des kommunistischen Regimes und erlebte nach wechselhaften politischen Umbrüchen einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung, der das kleine Land zum ostasiatischen Wohlstandsparadies machte. Für das kommunistische China jedoch ist seit der Trennung vom Festland allein schon die unabhängige Existenz Taiwans nicht akzeptabel.

Im Vergleich zum chinesischen Festland wirkt Taiwan winzig klein. Jedoch ist die Lage der Insel strategisch sehr günstig.

Eine Musterdemokratie im Visier der Großmacht

Anders als die von Russland angegriffene Ukraine ist Taiwan mit seiner Selbstverwaltung kein de facto souveräner Staat. Die Mehrzahl aller Länder erkennt Taiwan nicht an und vertritt den Standpunkt des Status quo. Unter den dreizehn Staaten, die eine offizielle Beziehung zur Republik China unterhalten, gehören etwa der Heilige Stuhl, Haiti, Paraguay, Tuvalu und St. Lucia.

Taiwan versuchte China unter anderem damit zu beschwichtigen, dass es seine Unabhängigkeit bis heute nicht erklärte, seinen Namen nicht änderte und auch keine Volksabstimmungen dazu durchführte.

Die Volksrepublik China verfolgt traditionell eine Ein-China-Politik mit dem Zusatz „ein Land, zwei Systeme“. Wie Hongkong soll Taiwan mit Festlandchina vereinigt werden, wobei ihm eine gewisse Autonomie zugesagt würde. Diese Forderung wird von der taiwanesischen Bevölkerung jedoch abgelehnt. Dabei darf nicht übersehen werden, dass der hochmoderne Industriestaat Taiwan 2020 auf dem weltweiten Demokratieindex Platz 11 von 167 Ländern belegte – übrigens noch vor Deutschland oder der Schweiz.

Seitdem erhöht die Volksrepublik China ihren Druck auf die Insel und übt sich in militärischem Muskelspiel. Beobachter fürchten, dass China die angespannte Lage des Westens nach Kriegsausbruch in der Ukraine ausnutzen könne, um sich das hoffnungslos unterlegene Taiwan einzuverleiben. Taiwan, so die gängige Formel, wird von den Kommunisten als integraler Bestandteil Chinas betrachtet, der nicht verhandelbar ist.

„Wiedervereinigung“ aus strategischem Interesse?

Der chinesische Staatschef hat mehrmals öffentlich verkündet, Taiwan bis spätestens 2049 mit dem Festland zu vereinen. Seine wiederholten Drohungen mit militärischer Gewalt haben eine Dimension, die sich mit der aktuellen Kriegsrhetorik aus dem Kreml messen kann. Dem kommunistischen China geht es aber nicht nur um die Symbolwirkung, die eine Eingliederung des vergleichsweise kleinen Taiwans hätte. Das nämlich ist nicht nur als Gegenmodell zum kommunistisch-diktatorischen Regime in Peking dessen Machthabern ein Dorn im Auge.

Auch die strategische Lage der Insel erweist sich als Zündstoff: Taiwan bildet ein Glied in der von Japan über Südkorea nach den Philippinen reichenden Kette, die vor Chinas Zugang zum Pazifik liegt. Die Straße von Malakka trennt Chinas Verbindung in Richtung Südostasien und Afrika, wo seine wichtigsten Handelsrouten verlaufen und ein Großteil seiner Ölimporte unterwegs sind.

Um seinen Status als globale Supermacht des 21. Jahrhunderts auszubauen, darf die Volksrepublik nicht zulassen, dass sozusagen vor der Haustür „Spielverderber“ groß werden, die in kritischen Momenten den Welthandel von und nach China kontrollieren könnten. Im strategischen Kalkül der kommunistischen Regierung dürfte ebenso eine Rolle spielen, dass rund die Hälfte der weltweit verbauten Halbleiter-Chips aus taiwanesischer Produktion stammen.

„Es kann jederzeit losgehen“

Dass China gewillt ist, in der Taiwan-Frage notfalls Waffen einzusetzen, ist also beiderseits der Formosastraße kein Geheimnis. Droht also ein neuer Krieg, ein weiterer Kampf von David gegen Goliath? Mitte Juni 2022 machte China erneut klar: Sollte Taiwan seine Unabhängigkeit erklären, werde es Krieg geben.

„Wir werden nicht zögern, zu kämpfen, wir werden um jeden Preis kämpfen, und wir werden bis zum Ende kämpfen“, teilte der chinesische Außenminister Wei Fenghe beim Shangri-La-Dialog in Singapur seinem US-Kollegen bin. Den Worten folgten Provokationen. Fast täglich dringen derzeit von Peking geschickte Kampfflugzeuge in die taiwanesische Luftverteidigungszone ein, schon im Mai waren es 30 solcher Vorfälle.

Jhy-Wey Shie, der inoffizielle Botschafter Taiwans in Deutschland, beschrieb in einem kürzlich gegebenen Zeitungsinterview mit der „Welt“ die Sorgen um sein Land: Neben der offenen Kriegsdrohung der Kommunisten und militärischen Provokationen hat Peking erklärt, dass die auch als Straße von Taiwan bezeichnete Formosastraße chinesisch sei und kein internationales Gewässer. Damit hat China eine weitere Zündschnur an das Pulverfass gelegt.

Taiwan habe errechnet, dass China 2025 über die Fähigkeiten verfügen würde, eine Invasion Taiwans mit kalkulierbaren Kosten zu unternehmen. Das sei aber eine reine Kosten-Nutzen-Rechnung. Shiehs bitteres Fazit: „Wir rechnen im Prinzip jeden Tag mit einem Angriff. (…) Eine Diktatur wie China handelt nicht mit logischem Kalkül. Sie ist unberechenbar. Es kann jederzeit losgehen.“ Und er nennt einen weiteren kritischen Aspekt: Zögerliche Hilfe des Westens für die Ukraine könnte China ermutigen, Taiwan anzugreifen.

Die USA haben sich zum Beistand verpflichtet

Die Rechnung zu Taiwan kann nicht ohne die Amerikaner gemacht werden. Die US-Politik folgte bisher der Linie einer „strategischen Zweideutigkeit“: klare Kante gegen China, aber keine unüberlegte Provokation. Nach Taiwan werden zwar Waffen aus amerikanischer Produktion geliefert, zugleich gab es nie eine konkrete Zusage an die Regierung in Taipeh, ihr im Verteidigungsfall beizustehen.

Das hat sich nun geändert. US-Präsident Joe Biden bestätigte auf seiner Japan-Reise im Mai 2022 seine bereits im Oktober 2021 abgegebene Erklärung: Die USA werden die Ein-China-Politik unterstützen, nicht aber deren gewaltsame Umsetzung. Deshalb habe er der taiwanesischen Regierung Beistand für den Fall einer Invasion zugesagt. Zitat: „Das ist die Verpflichtung, die wir eingegangen sind“.

Damit würde Washington einen Angriff auf Taiwan als Angriff auf Amerika werten und entsprechend reagieren. Ist damit die Kriegsgefahr vorerst gebannt? Die Chinesen auf dem Kontinent argumentieren dagegen. Ein Sprecher des Außenministeriums beschied Biden: „Man darf sich nicht gegen 1,4 Milliarden Chinesen stellen. Die Taiwan-Frage ist für China eine rein interne Angelegenheit.“ Raum für Kompromisse oder Zugeständnisse gebe es nicht.

Ein drohender Konflikt mit vielen Fragezeichen

Bisher vertraute die Volksrepublik auf die Schwäche des Westens. Deutschland beispielsweise unterließ es demonstrativ, die Fregatte „Bayern“ durch die Formosastraße steuern zu lassen, um in Peking niemanden zu verprellen. Beim BRICS-Gipfel schmiedete der chinesische Staatschef indes weiter an Allianzen mit Russland, Indien, Südafrika und Brasilien mit anti-westlicher Ausrichtung.

Dagegen setzen die Amerikaner auf Abschreckung und Flottenpräsenz. Taiwan hat seine Verteidigungsfähigkeiten ausgebaut, notgedrungen in eine leistungsfähige Rüstungsindustrie investiert und ein ausgeklügeltes Abwehrkonzept entwickelt. Für den Ernstfall stehen viele gut ausgebildete Reservisten bereit. Gegen das Millionenheer vom Festland dürfte das nicht reichen – gäbe es nicht die Wasserstraße mit ähnlicher Schutzwirkung wie die des Ärmelkanals für Großbritannien, den weder Napoleon noch Hitler überwinden konnten.

Blendet man das erschreckende Atomwaffenarsenal der USA und Volksrepublik einmal aus: Wie könnte sich ein Konflikt um Taiwan entwickeln? Der bisherige Kriegsverlauf in der Ukraine hat gezeigt, wie wertlos Prognosen sind, sobald der erste Schuss gefallen ist.

Der renommierte israelische Militärhistoriker Martin van Creveld sieht Chancen von „über 50 Prozent“ für China, weil die Volksrepublik über eine enorme lokale Überlegenheit verfüge und US-Streitkräfte anderweitig gebunden sind sowie lange Kommunikations- wie Versorgungswege haben.

Als den „Elefant im Raum“ aller Überlegungen bezeichnet van Creveld den Fall, dass beispielsweise ein amerikanischer Flugzeugträger mit 5000 Besatzungsmitgliedern vermisst würde. Dies könnte den Einsatz von Atomwaffen bedeuten.

Ist China ein Angriffskrieg überhaupt zuzutrauen?

Seit der Machtübernahme der kommunistischen Partei war Peking immer wieder Aggressor im Umfeld Chinas. Mao Tsetung hetzte das nordkoreanische Regime mit Rückendeckung Stalins in den Koreakrieg (1950 bis 1953) und schickte auch eigene Soldaten, die nun die amerikanischen Befreier von der japanischen Fremdherrschaft in blutige Kämpfe verwickelten.

Ab 1951 wurde der unabhängige Staat Tibet von der Volksrepublik okkupiert und mit grausamen Methoden eingegliedert. Im Herbst 1962 flammte ein von China begonnener Grenzkrieg mit Indien auf. 1979 fiel die chinesische Arme in Nordvietnam ein, wurde aber unter hohen Verlusten zurückgeschlagen. In jüngster Zeit hat die Volksrepublik Sandbänke und Riffe im Südchinesischen Meer militärisch besetzt und zu Inseln erklärt, wodurch Seegebiete von Peking beansprucht werden, die auch andere Anrainerstaaten in dem rohstoffreichen Areal für sich reklamiert haben.

Der Preis wäre für alle unermesslich hoch

Man kann davon ausgehen, dass in Peking genau verfolgt wird, wie sich die russische Armee in der Ukraine schlägt, wie stark die Gegenwehr ist, welche modernen Waffensysteme sich wie auswirken und vor allem: Ob und wie der Westen in der Lage ist, den Ukrainern Rückendeckung zu geben. Der Krieg in Osteuropa wird die Blaupause sein, nach der sich die chinesischen Militärplaner richten könnten. Je schwächer die Gemeinschaft der freien Welt Putin entgegentritt, desto weniger ist im Falle eines Angriffs auf Taiwan zu erwarten.

Zumal wirtschaftliche Verflechtungen Boykotts nahezu unmöglich machen. Wolfgang Ischinger, langjähriger Ausrichter der Münchner Sicherheitskonferenz, sieht den Westen „klar in der Defensive“. In den deutsche Medien ließ er sich mit dem düsteren Bild zitieren: „Wenn es wegen der Taiwan-Frage zu einem Krieg kommen sollte, dann gehen in Wolfsburg und in Ingolstadt am nächsten Tag die Lichter aus.“ Doch auch die Volksrepublik China, derzeit von der Coronakrise geschüttelt, müsste katastrophale Einbußen hinnehmen.

Ob ihr der Besitz des kleinen Taiwans den hohen Preis wert ist, wird zumindest im Augenblick bezweifelt. Chinesische Provokationen hin oder her – die Lage in der Ukraine zeigt, wie auch ein David gegen Goliath bestehen kann.

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