Welt der Wunder

Nicht glauben, sondern wissen

leonardo-da-vinci-imago

Foto: imago/imagebroker

Die Wahrheit über die Leonardo da-Vinci-Prophezeiungen

Der Schatz wird geplündert

1570 stirbt Francesco Melzi und sein Sohn Orazio weiß nichts mit den alten Pergamenten anzufangen: Er verkauft sie – und die Plünderung beginnt. Heute liegt das, was wir als Manuskripte des Leonardo kennen, an elf verschiedenen Orten in Europa. Doch das ist nur etwa ein Fünftel der gesamten Aufzeichnungen des Meisters aus Vinci. Der Rest ist verschollen, liegt vielleicht vergessen auf Bibliotheksregalen und taucht womöglich irgendwann durch Zufall wieder auf – wie die beiden Notizbücher, die erst 1967 in Madrid entdeckt wurden. Ein Großteil des Leonardo-Schatzes wird aber wohl für immer verloren bleiben …

Leonardos zukunftsweisende Visionen

Heute, fast 500 Jahre nach dem Tod Leonardo da Vincis, kennen wir also nur ein Fünftel von dem, was er gewusst hat. Diesen Notizbüchern, Codices genannt, verdanken wir Leonardos anatomische Studien, seine Aufzeichnungen in Spiegelschrift und die Konstruktionsskizzen zu technischen Erfindungen, die zum Teil erst Jahrhunderte später realisiert werden sollten. So weit, so bekannt. Aber in seinen noch erhaltenen Aufzeichnungen steckt mehr, bisher kaum Beachtetes. In der größten von Leonardos erhaltenen Schriftensammlungen, dem Codex Atlanticus, finden sich Passagen, die man leicht überblättert. Irgendwann Ende des 15. Jahrhunderts müssen die kurzen Texte entstanden sein, die er mit „Profetie“ übertitelte.

Leonardo maskiert diese Prophezeiungen als Spaß, als Unterhaltung für den Adel, auf dessen Wohlwollen er angewiesen ist. Das erklärt, weshalb er sich zu einigen seiner Voraussagungen selbst Regieanweisungen verordnete: „Sage es in wilder, wahnsinniger Art, als käme es von einem Irren“, steht da als Randbemerkung. Und wir können uns vorstellen, wie ein theatralischer Leonardo da Vinci die Augen aufreißt, vor den erschreckt kichernden Hofdamen wilde Grimassen schneidet und ruft: „Aus der Erde wird hervorkommen, wer mit grauenvollem Gebrüll alle Umstehenden betäuben und mit seinem Atem Menschen töten und Städte und Burgen zerstören wird.“ Eine apokalyptische Vision, die am Mailänder Hof vor 500 Jahren sicher für Schauder und Belustigung sorgte.

Atombombe, Autos oder Internet: Wusste Leonardo, was er da prophezeite?

Ebenso wie: „Es wird Wagen geben, die von keinem Tier gezogen werden und mit unglaublicher Gewalt daher fahren.“ Oder: „Das Meerwasser wird sich über die hohen Gipfel der Berge gen Himmel erheben und dann auf die Wohnstätten der Menschen herunterfallen.“ Solche Aussagen mögen im 15. Jahrhundert für Schauder und Belustigung gesorgt haben. Die tiefere Wahrheit seiner „Profetie“ wird aber wohl niemand außer Leonardo selbst verstanden haben. Denn in seinen Weissagungen offenbart sich das ganze Genie des Leonardo da Vinci. Seine Entdeckungen und Erfindungen waren zweifelsohne ihrer Zeit weit voraus. Aber er war offenbar auch in der L
age, die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, in die Zukunft zu projizieren. Er konnte anscheinend sehen, wie sich die moderne Welt durch den Einsatz neuer Technologien entwickeln würde. Mit anderen Worten: Leonardo konnte in die Zukunft blicken.

„Etwas aus der Erde, das mit seinem Atem Städte zerstören wird“ – sofort baut sich vor unserem inneren Auge der Atompilz von Hiroshima auf. „Wagen, die mit unglaublicher Gewalt daher fahren“: Für den Mann, der die Funktionsweise des Getriebes bereits durchdacht hat, ist der Schritt zum heutigen Auto nicht fern. Und das Meerwasser, das sich über die Gipfel erhebt – heute wissen wir um das Ansteigen der Meeresspiegel, das in den nächsten Jahrzehnten das Schicksal der Erde bestimmen wird. „Er glich einem Menschen, der in der Finsternis zu früh erwacht war, während die anderen noch alle schliefen“, sagte Sigmund Freud vier Jahrhunderte nach Leonardos Tod über ihn. Leonardo ist seiner Zeit nicht nur weit voraus – auch weiß niemand so viel über die Zukunft wie er. Das lässt zwei Schlüsse zu: Entweder er war selbst schon in die Zukunft gereist. Oder – was wohl wahrscheinlicher ist – er hat einen für Normaldenkende schier unfassbaren Zugang zu den Dingen um ihn herum. Die Grenzen von Raum und Zeit scheinen für ihn nicht zu gelten.

Leonardo, der Prophet: Woher stammt sein Wissen über die Zukunft?

Doch wie genau tickte das Universum in Leonardos Kopf? „Sehr erhabener Herr, nachdem ich mit großer Gründlichkeit die Arbeit aller, die sich Kriegsbaumeister nennen, studiert habe, lege ich meine geheimen Erfindungen zu Füßen Eures herrschaftlichen Thrones und erbiete mich, ihre Ausführung nach Euren Wünschen und Befehlen zu besorgen.“ Mit diesen kühnen Worten bewirbt sich Leonardo da Vinci 1482 beim Mailänder Herrscher Ludovico Sforza. Fünf Großmächte teilen zu der Zeit Italien unter sich auf: Venedig, Mailand, Florenz, Rom und Neapel – Fürsten- und Königshöfe, die sich durch häufig skrupellose Eroberungen gebildet haben. Italiens Herrscher bekämpfen sich gegenseitig wie Warlords. Nur dem, der zur richtigen Zeit auf der richtigen Seite steht und sich praktisch unentbehrlich macht, ist Erfolg beschieden.

Für Leonardo da Vinci, den Künstler, Erfinder, Wissenschaftler und Betreiber geheimer und streng verbotener anatomischer Studien, sind es gefährliche und unruhige Zeiten. Er lässt sich heimlich Leichen aus Krankenhäusern bringen, um sie zu sezieren. Also braucht er einen mächtigen Schutzherrn, um ungestört seinen Forschungen nachgehen zu können. Und er setzt auf den gewissenlosen, kalten Herrscher Ludovico Sforza, der unrechtmäßig auf dem Mailänder Thron sitzt – und von Feinden umgeben ist. Mit Kunstfertigkeit allein ist dieser Mann nicht zu gewinnen.

Mobile Brücken, revolutionäre Panzerwagen: Die Waffen der Zukunft

Doch Leonardo weiß genau, was Sforza sich erträumt, und er stellt es ihm in Aussicht: völlig neuartige Waffensysteme. Der verblüffte Sforza hält Skizzen von Kanonen, mobilen Brücken und allen voran von einem Panzerwagen in Händen. Der, so verspricht Leonardo, „jeden noch so großen Haufen von Bewaffneten zersprengen wird“. So etwas hat Sforza noch nie gesehen. Und besser noch: seine Feinde auch nicht. Leonardos Wunderwaffen würden dem Mailänder den nötigen Rückhalt geben, um seine Herrschaft zu stabilisieren. Und Leonardo hat einen Dienstherrn, der das Genie gewähren lässt, weil er um dessen Vorzüge weiß. Leonardos Entwürfe gehen weit über das hinaus, was Ingenieure vor ihm erdachten. Sein revolutionärer Panzerwagen funktioniert nach einem ebenso einfachen wie effizienten Prinzip: Die Männer im Inneren bedienen die zentralen Kurbeln, die mit Rollenrädern verbunden sind, die ihrerseits die Getriebe mit den vier Laufrädern in Gang setzen. Einmal gestartet, würde der Wagen unaufhaltsam übers Schlachtfeld rollen. Ein todsicheres, kraftstrotzendes Bollwerk samt 360-Grad-Geschützturm.

Ein genialer Geist, der seiner Zeit Jahrhunderte voraus ist

Sforza will diese Waffe natürlich haben, am besten sofort. Aber er schätzt die Lage falsch ein. Die meisten von Leonardos hochfliegenden Waffenplänen sind mit den technischen und handwerklichen Mitteln seiner Zeit gar nicht realisierbar. Sein konstruktiver Geist hatte sich wieder einmal auf eine Zeitreise in die Zukunft begeben. Und er weiß, dass erst die Menschen viele Generationen nach ihm zur Umsetzung seiner Maschinen fähig sein werden. Nicht umsonst hinterlässt er allein zum Vogelflug 160 Skizzen und fügt Konstruktionsvorschläge zu Flugmaschinen an. Andere Denker hätten sich davon abschrecken lassen – wozu etwas erfinden, das keiner versteht oder bauen kann?

Leonardo aber plant für die Zukunft, die er wohl ständig vor seinem geistigen Auge aufziehen sieht: Wenn eine Herzklappe auf eine bestimmte Weise funktioniert, muss das doch auch mit einer mechanischen Pumpe klappen. Wenn eine Kanone allein funktioniert, warum dann nicht gleich 36 zu einer Batterie zusammenschalten? Wo seine Zeitgenossen „groß“ sagen, sagt Leonardo „maximal“. Leonardo kennt keine Grenzen, weil er sich für restlos alles interessiert. Deshalb ist er auch der einzige Mensch seiner Zeit, der sich nicht nur vorstellen kann, was in 50, sondern auch, was in 500 Jahren geschehen wird.

Leonardo beweist: Die Unendlichkeit ist eine Maschine

Die Unendlichkeit ist für ihn kein göttliches Vorrecht, sondern ein selbstverständlicher Teil der Natur. Er entwirft sogar eine komplette Maschine nach diesem Prinzip: Zwölf Zahnräder unterschiedlicher Größe sind hintereinandergeschaltet. Das erste Getriebe vollendet eine Umdrehung in einer Sekunde. Nun wirken die Regeln der Übersetzung: Ein kleines Zahnrad muss sich öfter drehen, um ein größeres anzutreiben. Ein Teil der Kraft geht bei jedem einzelnen Getriebe scheinbar verloren, je nach Größe ein Siebtel oder gar ein Zehntel. Das letzte Rad scheint stillzustehen, völlig unbeweglich zu sein, obwohl es Teil der mechanischen Bewegung ist. Doch der Stillstand trügt: Auch das letzte Zahnrad dreht sich – doch in einer unendlich langsamen Geschwindigkeit. Für eine einzige Umdrehung benötigt es eine Billion Jahre! Für die einfachen Menschen des 15. Jahrhunderts, für die schon Zahlen über 1.000 unvorstellbar sind, wäre Leonardos Maschine ein Teufelswerk. Das weiß er – und baut sie nie. Erst im 20. Jahrhundert wird sie realisiert, und damit ist bewiesen, dass sie funktioniert.

Leonardos Fortschritts-Code: „Es geht immer weiter“

Auch die mittelalterliche Medizin seiner Zeit versetzt Leonardo um mehrere Jahrhunderte in die Zukunft: Er ist der erste Mensch, der mithilfe von Leichenuntersuchungen die Arteriosklerose beschreibt. Doch offiziell ist das Sezieren verboten. Der menschliche Leib ist für die Kirche ein Schatz der Schöpfung, der nicht angetastet werden darf. Noch ein halbes Jahrhundert nach Leonardos geheimen Körperstudien wird der belgische Anatom Andreas Vesalius wegen „Leichenraubes“ zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Doch Leonardo bleibt unangetastet – er ist den Mächtigen einfach zu wertvoll.

Erst 1516, mit über sechzig Jahren, scheint Leonardo des ewigen Taktierens, Versteckens und Fliehens müde: Auf Drängen des französischen Königs geht er nach Frankreich, wohl wissend, dass er seine Heimat nie wiedersehen wird. All seine Aufzeichnungen nimmt er mit sich, gleichsam ein Atlas seines genialen Geistes, der nach seinem Tod in aller Herren Länder verstreut werden soll. Doch er hat ihn nie vollendet – das letzte Wort, das er schreibt, ist gleichsam an die Zukunft gerichtet: „etcetera“. Leonardos Code für „Es geht immer weiter“.

Welt der Wunder - Die App

Kostenfrei
Ansehen