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Der Suchtatlas des Körpers

Foto: Thinkstock / KatarzynaBialasiewicz

Der Suchtatlas des Körpers

Was passiert bei einem Entzug in meinem Körper? Wie lange braucht mein Kopf, um clean zu werden? Gibt es eine Impfung gegen Drogen? Toxikologen, Psychologen und Mediziner erklären, warum sich unser Gehirn selbst vergiftet und welche Folgen es hat, wenn wir gegen die Sucht in den Krieg ziehen.

Vor exakt zehn Stunden ist in Martin Kressners Körper (Name von der Redaktion geändert) ein Krieg ausgebrochen. Millionen Nervenzellen feuern ohne Unterbrechung, Gehirn, Muskeln und Herz sind im Ausnahmezustand. Sein T-Shirt ist vom Schweiß durchnässt, das Fieberthermometer zeigt 40 Grad Celsius an.

Gleichzeitig nimmt die Intensität der Halluzinationen von Minute zu Minute zu. Er sieht einen Kampfjet in seinem Wohnzimmer auf sich zurasen. Er bemerkt, wie sein Körper zu zittern beginnt, seine Muskeln krampfen sich unkontrolliert zusammen. Die Atmung setzt aus, kurz darauf auch der Herzschlag. Der langjährige Alkoholiker stirbt, zwölf Stunden nach seinem 42. Geburtstag. 

Das Paradoxe: Martin Kressner kommt nicht ums Leben, weil er zu viel auf einmal getrunken hat oder seine Organe aufgrund des dauerhaften Alkoholkonsums kollabiert sind, im Gegenteil: Er stirbt, weil er von einem Moment auf den nächsten die Alkoholzufuhr gekappt hat, sein Körper deshalb gegen ihn in den Krieg gezogen ist. Delirium tremens nennen Mediziner dieses Phänomen – eine Art tödlicher Epilepsieanfall im Verlauf eines kalten Entzugs. Aber was genau passiert überhaupt bei einem Entzug in unserem Körper? Was macht uns süchtig und warum? Und wie lange dauert es, bis sich die Organe regenerieren?

Brain-Hack: Warum verlangt mein Gehirn nach Gift?

Ganz gleich, ob Alkohol, Marihuana, Kokain, Crystal Meth oder sogar Zucker, Salz und Fett – auch wenn all diese Stoffe ganz unterschiedliche Auswirkungen auf verschiedene Körperregionen haben, so haben sie doch eines gemeinsam: Ab einer gewissen Dosis lösen sie eine erhöhte Ausschüttung von Dopamin aus, eines Botenstoffs, der das Belohnungszentrum anheizt. So konnte eine Studie belegen, dass die Dopaminausschüttung beim Essen von zucker-, salz- oder fetthaltiger Nahrung um 50 Prozent ansteigt. Doch im Vergleich zu anderen Stoffen ist dieser Anstieg moderat. 

Marihuana erhöht die Menge des Glücksstoff-Tsunamis um 175 Prozent, Alkohol um 200 Prozent, Kokain um 400 Prozent und Crystal Meth sogar um 1000 Prozent. Die Auswirkungen dieses körperlichen Ausnahmezustands sind präzise nachvollziehbar: Aufgrund der erhöhten Ausschüttung sprechen mehr Nervenzellen auf die entsprechende Droge an.

Und je mehr Nervenenden bereitgehalten werden, an denen die Moleküle andocken können, umso positiver wird das gute Gefühl bewertet. All die Gifte, die mit den Substanzen in unseren Körper fließen, spielen für das Gehirn dann keine Rolle mehr. Es ist längst im Selbstzerstörungsmodus. 

„Drogen verhalten sich ähnlich wie Trojaner. Sie hacken sich ins Gehirn und in neuronale Verbindungen, die eigentlich für ganz andere Dinge wie etwa die Nahrungsaufnahme vorgesehen sind“, sagt Prof. Dr. Jens Reimer, Leiter des Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Auf diese Weise bildet sich ein sogenanntes Suchtgedächtnis. Von jetzt an gilt: Je häufiger der Konsum, desto schwerer ist es zu löschen. Versucht man es dennoch, kann dies tödlich enden …

Cold Turkey: Was passiert, wenn mein Gehirn auf Sofort-Entzug gesetzt wird?

Martin Kressner musste sterben, weil er seinen Körper überschätzt hat – und eine Entgiftungsform wählte, von der mittlerweile die meisten Mediziner entschieden abraten: der kalte Entzug, auch Cold Turkey genannt. „Es ist die radikalste und riskanteste Methode, um clean zu werden“, meint der Suchtmediziner Jens Reimer vom UKE. Aber was genau macht diesen Entzug so unberechenbar – und unter gewissen Umständen sogar tödlich? 

„Alkohol bezeichnen wir als Dirty Drug – also als schmutzige Droge. Das liegt daran, dass Alkohol gleich mehrere verschiedene Botensysteme im Gehirn verändert“, erklärt Reimer. Kappt man den Nachschub des Alkohols von einem Moment auf den anderen, senden verschiedene Rezeptoren (u. a. die sogenannten GABA- und NMDA-Rezeptoren) unentwegt Alarmsignale aus; bei Heroin beispielsweise feuert nur eine Art von Rezeptoren. Dadurch gerät der Betroffene beim kalten Entzug derart unter Stress, dass am Ende sein Körper unter der Belastung zusammenbricht und das Herz-Kreislauf-System kollabiert.

Alarmstufe Rot und Vollgas

Alkohol hat vor allem in höherer Dosierung sedierende Wirkung. Bei chronischem Konsum ist das wie ein ständiger Druck auf das Bremspedal. Bleibt der Alkohol plötzlich weg, fehlt die Bremse, und der Körper gibt Vollgas. Das Risiko dieses Delirium tremens verringert sich erst nach Tagen, wenn die Rezeptoren sich an die Situation gewöhnt haben und ihr Botenstoff-Feuerwerk reduzieren.

Suchtforscher wie Prof. Reimer empfehlen bei schwerer Alkoholabhängigkeit, aber auch bei einigen anderen schweren Drogenabhängigkeiten, daher ein schrittweises Absetzen oder eine medikamentöse Unterstützung des Entzugs, bei der die Neuronen langsam vom Alkohol bzw. von anderen Drogen entwöhnt werden. 

Dies gelingt mithilfe von Medikamenten, die im Entzug einen Teil der Wirkung der zu entziehenden Substanz imitieren. Sie schwächen die Entzugssymptome wie Zittern, Fieber und Muskelkrämpfe ab. Je nach Droge und Dauer der Abhängigkeit kann dies Tage oder sogar Wochen dauern. Bei manchen Patienten beginnt diese Entzugstherapie jedoch nicht erst nach jahrelanger Drogenabhängigkeit, sondern nur 24 Stunden nach dem ersten Atemzug …

Finnegan-Scores: Gibt es eine Anleitung zum Entzug?

Die Augenbinden sitzen fest, kein Licht oder Geräusch dringt zu ihnen, nahezu bewegungslos liegen die Entzugspatienten in ihren Betten. Was sie von anderen Drogenabhängigen unterscheidet: Sie haben noch nie in ihrem Leben einen Schluck Alkohol getrunken, Kokain geschnupft oder Heroin gedrückt – denn sie sind erst wenige Tage alt. Tatsächlich gibt es auf den Neugeborenenstationen in den Kliniken Deutschlands Hunderte Babys, die auf Entzug sind. Ihr Gehirn wurde durch die von ihren Müttern eingenommenen Drogen schon vor der Geburt auf bestimmte Stoffe abgerichtet.

Die Entzugssymptome treten innerhalb von 24 bis 48 Stunden nach der Geburt auf. Es ist der Moment, in dem der Drogenpegel nach neun Monaten Schwangerschaft plötzlich abfällt, da das Neugeborene nicht mehr von der Mutter mitversorgt wird. Die Schwere des Entzugs wird anhand der sogenannten Finnegan-Scores bestimmt, von Tabellen, die angeben, bei welchen Symptomen welche Dosis verabreicht wird.

Schrilles Schreien, Fieber, Krampfanfälle – die Entzugserscheinungen gleichen denen von vielen erwachsenen Abhängigen. Um die Symptome abzuschwächen, wird auch hier Schritt für Schritt entzogen. So bekommen die Neugeborenen alle vier bis sechs Stunden Morphintropfen in den Mund geträufelt. Der Entzug dauert bis zu vier Wochen.

Suchtareale auf Stand-by

Doch ganz gleich, in welchem Alter die Abhängigen sind: Das Craving, also das unbändige Verlangen des Gehirns nach Drogen, können diese Medikamente weder bei Alkohol noch bei Heroin, Kokain oder Crystal Meth ganz abschalten. Je nach Droge vergehen Tage, Wochen oder Monate, bis die körperlichen Entzugssymptome zurückgehen.

Hinzu kommt, dass nach dieser Zeit das Suchtgedächtnis noch längst nicht gelöscht ist, sondern meist ein Leben lang bestehen bleibt. Es genügt bereits ein Zug an einer Zigarette, ein Schuss Heroin oder ein Tropfen Alkohol Jahre später, um es zu reaktivieren. Suchtforscher sprechen bei diesen Postentzugspatienten von „nassen Konsumenten“. Sie sind zwar körperlich trocken und haben die Droge selbst aus dem Körper verbannt, bestimmte Suchtareale im Gehirn sind jedoch weiterhin im Schläfermodus und warten nur darauf, geweckt zu werden.

Dr. Zombie: Kann man in 20 Minuten clean werden?

Patrick Lutz (Name von der Redaktion geändert) ist verzweifelt. Seit Jahren bestimmt Heroin sein Leben. 13 Entzüge hat er hinter sich, alle sind gescheitert. Jedes Mal war sein Wille zu schwach, seine Ausdauer zu gering, den wochenlangen Entzug durchzuziehen. Jetzt setzt er alles auf eine Karte, bzw. auf einen Mann: Dr. Michail Zobin – auch Dr. Zombie genannt.

Der Militärarzt bietet in seiner Klinik in Moskau die angeblich erfolgreichste Herointherapie der Welt an. Sie hat nur einen Haken: Wer rückfällig wird, stirbt sofort. Lutz liegt auf einem Tisch, Infusionen und Schläuche stecken in seinem Körper. Was dann genau passiert, darüber gibt Zobin keine Auskunft.

Der Arzt spritzt dem Patienten eine milchigtrübe Flüssigkeit in eine Halsvene. „Ein Botenstoff, der die Rezeptoren blockiert“, so Zobin. Wie eine Plombe auf einem Zahn soll der Stoff das Suchtgedächtnis für immer verschließen. Nach 20 Minuten ist die Prozedur beendet. Kurz darauf fällt Lutz in einen langen Schlaf. Am nächsten Morgen verspürt er kein Verlangen nach einem Schuss, die Craving-Symptome scheinen wie ausgelöscht.

Für immer clean oder sofort tot

In Zobins Klinik folgt schließlich die Probe aufs Exempel. Der Arzt spritzt dem Schweizer ein Opiat, 40-mal schwächer als Heroin. War die Rezeptoren-Versiegelung erfolgreich, wirkt die Spritze wie eine Überdosis. Und tatsächlich: Lutz’ Atmung setzt aus, er würde sterben – wenn Zobin ihn nicht künstlich beatmete. Der Versuch zeigt: Sollte Lutz sich eine Spritze setzen, würde er an einer Überdosis sterben.

Viele Ärzte kritisieren Zobins Behandlung, sie ergebe aus wissenschaftlicher Sicht keinen Sinn, andere halten ihn für einen Betrüger. Die Zahlen von Zobin sprechen eine andere Sprache. Demnach sollen nur ein Prozent aller Patienten rückfällig geworden (sprich: tot) sein. Zum Vergleich: Die Rückfallquote bei herkömmlichen Heroinentzugsprogrammen liegt bei etwa 90 Prozent. Patrick Lutz ist heute, drei Jahre nach der Behandlung, noch immer clean.

Drug-Blocker: Gibt es eine Impfung gegen Kokain?

Was aber, wenn man sein Leben nicht in die Hände eines Moskauer Militärarztes legen will? Und was, wenn man von einer Droge abhängig ist, für die es keinen Ersatzstoff bei einem Entzug gibt? Wie zum Beispiel von Kokain? Thomas Kosten und seine Kollegen vom Weill Cornell Medical College in New York haben nach anderen Lösungen gesucht – und sind vor Kurzem fündig geworden: Sie haben einen Impfstoff gegen Kokain entwickelt. 

Tatsächlich bilden Menschen, die mit dem Stoff geimpft werden, Antikörper gegen Kokain. Die binden sich an das Kokain und sorgen dafür, dass die Droge nicht mehr ins Gehirn eindringen kann. Wie ein Virus-Blocker im PC lässt der Impfstoff dem Kokain keine Chance und fängt es ab, bevor der Stoff das Belohnungszentrum manipulieren kann.

Folge: Der Rausch bleibt aus – der Mensch verlernt, nach mehr zu verlangen. In den vergangenen fünf Jahren haben die Forscher mehr als 400 Kokainsüchtige geimpft. Bei 75 Prozent zeigte die Impfung Wirkung. Ein Wert, der Millionen Menschen Hoffnung macht …

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