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Was Marshmallows mit Selbstdisziplin zu tun haben

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Was Marshmallows mit Selbstdisziplin zu tun haben

Ständig treffen wir große oder kleine Entscheidungen. Doch welche Auswirkungen haben diese in 10 Minuten, 10 Stunden, 10 Tagen, 10 Wochen oder 10 Jahren? Und was haben Marshmallows damit zu tun?
„Jetzt“ oder „gleich“
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„Jetzt“ oder „gleich“

Was hat ein Marshmallow damit zu tun, wie mein Leben verlaufen wird? Was verrät eine Süßigkeit über mein Ich? Das wohl berühmteste Experiment der Psychologie beantwortet genau diese Fragen. Denn eine einfache Entscheidung zwischen „jetzt“ oder „gleich“ kann nicht nur gewaltige Auswirkungen auf meine Zukunft haben, sondern offenbart schon im Kindesalter, wie stark meine Persönlichkeit sein wird. Ein Interview mit Walter Mischel, dem Schöpfer des Marshmallow-Tests

Der Marshmallow-Test
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Der Marshmallow-Test

Zwischen 1968 bis 1974 führte der Psychologe Walter Mischel eine Studienreihe durch, bei der vierjährigen Kindern eine Belohnung vorgesetzt wurde – meist ein Marshmallow. Er erklärte den Kindern, dass er den Raum nun verlassen würde, und stellte sie vor die Wahl: Sie könnten ihn entweder mithilfe einer Glocke wieder herbeirufen – in diesem Fall dürften sie ihre Belohnung sofort essen. Oder aber sie könnten warten, bis er von allein zurückkehre, und würden dafür zwei Marshmallows erhalten. Jahrzehnte später zeigte sich, dass die simple Entscheidung der damals Vierjährigen nicht nur Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeitsstruktur zuließ, sondern auch auf ihre zukünftige Lebenszufriedenheit. Je länger die Kinder im Experiment gewartet hatten, desto besser konnten sie später mit Frustrationen umgehen. Sie waren erfolgreicher und beschrieben sich selbst als glücklicher.
Herr Professor Mischel, wie lange haben die Kinder in Ihrem Experiment durchgehalten?
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Herr Professor Mischel, wie lange haben die Kinder in Ihrem Experiment durchgehalten?

Walter Mischel: Durchschnittlich eine bis eineinhalb Minuten. Viele haben praktisch gleich geläutet, nachdem die Tür zugegangen war. Manche hielten aber auch durch, bis sie nach 15 Minuten ihre Belohnung bekamen. Das sind unsere High Delayer, sie waren in der Lage, ihren Belohnungswunsch sehr lange aufzuschieben. Die Ungeduldigen nennen wir Low Delayer.
Dieser einfache Test verrät etwas über die Zukunft dieser Kinder?
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Dieser einfache Test verrät etwas über die Zukunft dieser Kinder?

Der Test ist tatsächlich so simpel wie nur möglich. Ich habe drei Jahre lang mit meinen Töchtern Varianten ausprobiert, bis ich das beste Untersuchungsdesign gefunden hatte. Eigentlich war das Experiment aber nur dazu gedacht, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle zu messen und das Verhalten dabei zu analysieren. Erst Jahre später bin ich darauf gekommen, dass es viel mehr verrät.

Wie kam das?
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Wie kam das?

Beim Abendessen sprach ich mit meinen Töchtern darüber, was ihre früheren Freunde inzwischen machten sowohl sie als auch meine Töchter hatten seinerzeit am Test teilgenommen. Dabei fiel mir auf, dass jene Kinder, von denen ich wusste, dass sie beim Test besonders ungeduldig gewesen waren, öfter Probleme hatten, und umgekehrt bei den Disziplinierten alles ziemlich gut lief.
Haben Sie den weiteren Lebensweg der Kinder untersucht?
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Haben Sie den weiteren Lebensweg der Kinder untersucht?

Ja, mit höchst erstaunlichen Ergebnissen. Zehn Jahre nach unserem Experiment stellten wir fest: Die High Delayer besaßen eine höhere Konzentrationsfähigkeit als die anderen. Sie konnten besser mit Frustrationen umgehen, waren selbstbewusster, erzielten bei Intelligenztests höhere Werte und hatten die besseren Schulnoten. Zwanzig Jahre später besaßen sie häufiger einen Uni-Abschluss, ihre Beziehungen waren stabiler, sie nahmen seltener Drogen, und sie waren schlanker als die Low Delayer. Und so ging es in den folgenden Jahrzehnten immer weiter: In allen möglichen Facetten des Lebens blieben auffällige Unterschiede.
Heißt das, schon mit vier Jahren ist der weitere Lebensweg vorgezeichnet? Unsere Persönlichkeit ist dann festgefügt?
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Heißt das, schon mit vier Jahren ist der weitere Lebensweg vorgezeichnet? Unsere Persönlichkeit ist dann festgefügt?

Nichts ist wirklich festgefügt. Aber es gibt früh große Unterschiede. Wir haben sie schon bei Kindern im Alter von 18 Monaten beobachtet. Allerdings ohne Marshmallow: Die Mütter der Kinder verließen für kurze Zeit den Raum, und wir beobachteten, wie lange es dauerte, bis ein Kind unruhig wurde und weinte. Das Interessante: Jahre später haben wir dieselben Kinder dann dem Marshmallow-Test unterzogen. Und diejenigen, die es länger ohne Mutter ausgehalten hatten, konnten auch länger auf das zweite Marshmallow warten. Schon das Verhalten im Alter von eineinhalb Jahren sagt also eine Menge aus.
Bedeutet das, diese Unterschiede sind angeboren?
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Bedeutet das, diese Unterschiede sind angeboren?

Die Gene spielen eine Rolle, aber Umwelt, Erziehung und Erfahrungen haben auch einen Einfluss. Man kann das nicht trennen. Es geht es hier um einen statistischen Zusammenhang, eine Korrelation, aber keine Kausalität. Nicht jeder, der beim Marshmallow-Test schlecht abschneidet, hat ein miserables Leben vor sich. Zweitens können Menschen sich ändern. Zumindest ein Viertel unserer Versuchsteilnehmer hatte sich bei späteren Folgestudien verändert – aus Low Delayern waren High Delayer geworden. Bei einigen war es auch umgekehrt.
Wie kommt das?
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Wie kommt das?

Das haben wir noch nicht geklärt. Aber eines wissen wir: Bestimmte Strategien helfen uns, die Selbstkontrolle zu verbessern. Man kann sie sogar trainieren. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus unserem Experiment: Wird das Marshmallow auf dem Tisch durch einen Teller abgedeckt, schaffen viele Kinder es plötzlich, zehn oder fünfzehn Minuten zu warten, statt eine oder zwei. Ein dramatischer Effekt! Die Kinder waren ja alt genug, um zu verstehen, dass das Objekt da ist, auch wenn sie das Marshmallow nicht sehen konnten. Trotzdem macht es einen Unterschied. Nicht zufällig waren ja einige Kinder bei unseren Versuchsreihen auch selbst auf die Idee gekommen, die Augen zu schließen oder sich abzulenken. Manche zogen sich ihre Sandalen aus und spielten mit ihren Zehen Klavier. Sie waren sehr erfindungsreich.

Wenn es auf Selbstdisziplin ankommt, soll ich mir also die Augen zuhalten oder mit meinen Zehen spielen?
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Wenn es auf Selbstdisziplin ankommt, soll ich mir also die Augen zuhalten oder mit meinen Zehen spielen?

Wir können unsere Selbstkontrolle verbessern, indem wir unsere Wahrnehmung steuern. Zum Beispiel half es den Kindern, wenn wir ihnen nur sagten: Stell dir vor, das Marshmallow wäre nicht echt – es ist nur ein Wattebausch. Schon hielten sie länger durch!

Das klingt absurd.
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Das klingt absurd.

Aber es funktioniert. Wir können ändern, was die Dinge mit uns machen, indem wir anders über sie denken. Das ist die Kraft der Gedanken. Wenn ich zum Beispiel an Diabetes erkranke, dann ist es für mein Überleben wichtig, dass ich einem Stück Kuchen eine andere mentale Bedeutung zuschreibe – dass ich in ihm nicht mehr eine leckere Nascherei sehe, sondern Gift.

Warum funktioniert das?
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Warum funktioniert das?

Im menschlichen Gehirn gibt es das limbische System. Das ist früh in der Evolution entstanden, es ist der Sitz von Emotionen und von unmittelbaren, instinktiven Reaktionen. Ich nenne diese Funktionen das Hot System. Ein Beispiel: Sie hören einen Schuss und ducken sich sofort, ohne nachzudenken. Das sind unmittelbare Reaktionen auf Angst oder auf Appetit auslösende Reize. Diese Reaktionen waren fundamental wichtig in der frühen Menschheitsgeschichte. Aber sie helfen nicht, wenn es darum geht, seine Altersvorsorge zu planen oder auf das zweite Marshmallow zu warten.

Kann man dieses Hot System ausschalten?
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Kann man dieses Hot System ausschalten?

Zum Glück ist später in der Evolution der präfrontale Kortex entstanden – der Teil des Gehirns, der gleich hinter der Stirn liegt. Hier sitzen die Imagination, die Impuls-kontrolle und die Fähigkeit, sich die Zukunft vorzustellen. Ich nenne es das Cool System. Anders als das Hot System ist es nicht reflexartig, sondern reflektiv. Es erlaubt uns, Probleme anders zu lösen, statt bloß reflexartig zu reagieren.

Und bei der Selbstkontrolle, die Sie erforschen, geht es darum, wie dieses Cool System die Instinkte zügelt?
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Und bei der Selbstkontrolle, die Sie erforschen, geht es darum, wie dieses Cool System die Instinkte zügelt?

Ja, genau, wir tun das ständig. Die meisten Menschen putzen sich die Zähne, bevor sie schlafen gehen. Das ist nicht das, was das Hot System uns nahelegt. Das sagt: Ich bin hundemüde und möchte mich ins Bett fallen lassen. Aber wir tun es nicht, weil es zu einer Gewohnheit geworden ist, sich vor dem Schlafengehen die Zähne zu putzen. Selbstkontrolle funktioniert am besten, wenn wir sie gewohnheitsmäßig machen. Dabei helfen Regeln, Vorsätze und Wenn-dann-Pläne. Wenn ich ins Bett gehen will, dann putze ich mir vorher die Zähne.

Haben Sie sich selbst einmal dem Marshmallow-Test unterzogen?
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Haben Sie sich selbst einmal dem Marshmallow-Test unterzogen?

Nein. Aber das Leben stellt uns ja auf die Probe. Und in bestimmten Bereichen bin ich schon sehr diszipliniert. Sonst hätte ich keine 200 Publikationen. Und ich hätte es als Flüchtling, der vor den Nazis aus seiner Heimat geflohen ist, sicher nicht zu etwas gebracht. Ich erinnere mich, dass ich als neunjähriger Junge noch einmal in den Kindergarten gehen musste, um dort Englisch zu lernen. Ich versuchte dort, auf Knien zu gehen, weil ich zwischen den Kleinen nicht so herausragen wollte. Später musste ich für das Geschäft meiner Eltern Waren ausliefern. Das war anders als heute: Die Idee, dass man als Familie viel Zeit miteinander verbringt und zusammen Spaß hat, existierte für uns nicht. Meine Eltern waren viel zu beschäftigt damit, uns über Wasser zu halten.
Sind Sie dadurch zielstrebiger und disziplinierter geworden?
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Sind Sie dadurch zielstrebiger und disziplinierter geworden?

Das war sicherlich eine prägende Zeit. Aber lassen Sie mich eines klarstellen: Ein Mensch muss nicht in allen Lebensbereichen gleich diszipliniert sein. Keineswegs! Mancher arbeitet zum Beispiel extrem diszipliniert, hat aber keinerlei Kontrolle, wenn es um eine Tafel Schokolade geht. Oder jemand ist superdiszipliniert im Fitnessstudio, hat aber Riesenprobleme, seine Wohnung in Ordnung zu halten. Es geht auch darum, was mir wichtig ist.
Dann ist die Motivation entscheidend?
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Dann ist die Motivation entscheidend?

Sie brauchen beides: ein Ziel, für das Sie brennen, und die Fähigkeit, beharrlich darauf hinzuarbeiten. Nur wenn Sie die besitzen, haben Sie überhaupt eine Wahl. Dann können Sie anders handeln, als es Ihnen das Hot System vorgibt. Nur der Mensch, der sich selbst beherrschen kann, ist frei. Für viele Menschen ist das sehr erstrebenswert.
Aber das Leben besteht doch nicht nur aus Selbstdisziplin!
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Aber das Leben besteht doch nicht nur aus Selbstdisziplin!

Ich predige ja nicht ständige Selbstbeherrschung. Absolut nicht! Ein Leben aus lauter Selbstkontrolle ist wie ein ungelebtes Leben, genauso schrecklich wie ein Leben ohne jede Selbstbeherrschung. Es geht bei diesem Thema ja nicht nur um Menschen, die schon sehr diszipliniert sind und zwischen ein bisschen mehr Genuss oder ein wenig mehr Verzicht wählen. Nein, viele Menschen leiden fürchterlich, weil sie sich einfach nicht beherrschen können. Sie kommen im Beruf nicht zurecht, weil sie aufbrausend sind, sie vermasseln es mit ihren Partnern, sie kriegen eine Sucht nicht in den Griff. Ihr Leben ist eine Katastrophe.
Wie kann Ihre Forschung helfen?
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Wie kann Ihre Forschung helfen?

Wir haben den Marshmallow-Test auch in New York gemacht, an Schulen in der Bronx, wo ständig Polizeiautos vor der Tür stehen. Da zeigte sich: Aggressive Schüler, die ausrasten, wenn ihnen einer nur Cola über die Schuhe kleckert, konnten besonders schlecht auf die Belohnung warten. Da gibt es einen engen Zusammenhang. Menschen wie ihnen müssen wir helfen, ihr Cool System zu trainieren. Darin sehe ich den gesellschaftlich wichtigsten Beitrag meiner Forschung. Selbstdisziplin sollte schon im Kindergarten gefördert werden. Eltern sollten ihren Kindern auf jeden Fall ein gewisses Maß an Selbstdisziplin vorleben. Und wenn Sie etwas versprechen, sollten sie es unbedingt einhalten. Sonst zerstören sie das nötige Vertrauen.
Was hat Vertrauen damit zu tun?
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Was hat Vertrauen damit zu tun?

Sehr viel. Wenn auf nichts Verlass ist, macht es womöglich gar keinen Unterschied, ob ich mich anstrenge oder nicht. Wir haben auch einmal getestet, was passiert, wenn man den Kindern das versprochene zweite Marshmallow nicht gibt. Sie lernen dann schnell, dass nur sicher ist, was sie im Mund haben. Dann wartet keiner mehr. Noch etwas kommt hinzu: Wenn Sie Stress empfinden, wird das Hot System aktiviert, und das Cool System fährt gewissermaßen herunter. Für Kinder, die in chaotischen, instabilen Verhältnissen leben, ist der chronische Stress groß. Da ist es schwer, das Cool System einzusetzen. Also, wenn Eltern fragen, was sie tun können, sage ich: das Erste ist, das Stressniveau so niedrig wie möglich zu halten. Das Zweite ist, mit dem eigenen Verhalten vorzuleben, was sie von den Kindern erwarten.
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