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Stau ohne Grund?

Foto: Imago / Fotoarena

Stau aus dem Nichts: Warum unsere Straßen plötzlich verstopfen

Staus beschäftigen die Wissenschaft schon lange. Wie entsteht ein Stau scheinbar aus dem Nichts? Ließen sich Staus verringern oder gar vermeiden? Was Forscher und Forscherinnen inzwischen wissen:

Zu wenig Platz für zu viele Autos – ist das die ganze Wahrheit?

In der brasilianischen Millionenmetropole São Paulo sind Autofahrende daran gewohnt, im Stau zu stehen. Vor allem  vormittags und zur Rushhour am späten Nachmittag drängen sich rund zwanzig Millionen Autos auf den Straßen. Am 11. Juni 2009 kam es hier zum größten jemals gemessenen Stau: Über 293 Kilometer erstreckte sich die Blechlawine. In Deutschland gab es im Jahr 2021 durchschnittlich 16.250 Staukilometer pro Woche. Die dadurch entstehenden wirtschaftlichen Schäden liegen in Milliardenhöhe.

Doch wie entstehen Staus? Unfälle, Baustellen oder verengte Fahrbahnen behindern unter anderem den Verkehrsfluss. Doch nicht jeder Stau hat diese offensichtliche Ursache. Ein weiterer Grund für Staus: zu wenig Platz für ein zu hohes Aufkommen. Doch es steckt noch mehr hinter den Verkehrssituationen, in denen es plötzlich kein Durchkommen mehr gibt.

Plötzlicher Stau ohne Ankündigung

Zahlreiche Staus entstehen scheinbar aus dem Nichts: Ohne sichtbaren Grund kommt der Verkehr plötzlich zum Stocken, scheint sich einen kurzen Augenblick wieder zu korrigieren und kommt schließlich zum Stillstand.

Früher glaubte man, dass ein solcher Stau ohne Vorwarnung dann entsteht, wenn schlicht zu viele Fahrzeuge gleichzeitig eine bestimmte Strecke befahren wollen. Grundsätzlich ist das schon nah an der Wahrheit – doch die Stauforschung hat inzwischen weitere Gründe aufgedeckt.

Das Nagel-Schreckenberg-Modell

Das bekannteste Erklärungsmodell stammt von Kai Nagel und Michael Schreckenberg. Anfang der 1990er-.Jahre gelang es den beiden Physikern zum ersten Mal, mit theoretischen Überlegungen die Ursachen für einen „Stau aus dem Nichts“ zu demonstrieren.

Ihrem Nagel-Schreckenberg-Modell zufolge reicht es bei sehr starker Verkehrsdichte bereits aus, wenn ein einzelnes Auto trödelt oder zu stark bremst, um eine Kettenreaktion in Gang zu setzen. Während der Erste nur seine Geschwindigkeit verringert, muss der Zweite schon bremsen und der Dritte noch mehr.

Gleichzeitig nimmt das Wiederanfahren gemäß der Berechnungen von Schreckenberg rund zwei Sekunden Zeit in Anspruch, während von hinten jede Sekunde ein Auto kommt. Das Resultat: Ein Stau bildet sich. Der erste Fahrer bekommt davon nichts mehr mit. Der eigentliche Stau entsteht weit hinter ihm. Die Stauung wandert mit 15 Kilometern pro Stunde gegen die Fahrtrichtung weiter, berechnete Schreckenberg. Daher wird den Autofahrenden, die den Stau auslösen, ihr Fehlverhalten nie bewusst.

Die Stau-Theorie in die Praxis umsetzen

Der japanische Forscher Yuki Sugiyama setzte Schreckenbergs theoretische Überlegungen in die Praxis um. Er ließ 22 Autos über eine Strecke von 230 Metern im Kreis fahren. Jedes Fahrzeug sollte mit dem gleichen Abstand zum Vordermann starten und eine konstante Geschwindigkeit von 30 Stundenkilometern einhalten. Eigentlich, so sollte man annehmen, müssten die Autos auf diese Weise ewig im Kreis vor einander her fahren können.

Stattdessen: Schon nach kurzer Zeit gab es erste Stockungen und nach einer Minute kam der Verkehr auf dem Rondell zum Erliegen. Dafür machte Sugiyama ähnliche Gründe wie Schreckenberg aus: Sobald ein Auto nicht die vorgeschriebene Geschwindigkeit einhielt, musste das nachfolgende Fahrzeug bremsen und es kam zum Stau. Und: Setzte er mindestens 22 Autos ein, war ein Stau unvermeidbar. Waren es weniger als 22, löste sich zähfließender Verkehr von selbst wieder auf.

Der Faktor Mensch als Stau-Auslöser

Sugiyama und Schreckenberg konnten mit ihren Untersuchungen zeigen, dass es neben der Anzahl der Autos vor allem das menschliche Fehlverhalten ist, das einen Stau aus dem vermeintlichen Nichts auslöst. Dieser Faktor wird wohl auch bis auf Weiteres ein Problem bleiben – Menschen sind eben keine perfekten Autofahrer.

Studien zeigen, dass unterschiedliche Fahrende im Verkehr auch unterschiedlich schnell reagieren. Hinzu kommt, dass durch Müdigkeit und Stress auch die Leistung guter Fahrer einbrechen kann. Darüber hinaus hängt die Reaktionszeit oft von der Situation ab. Etwa, ob Fahrer mit möglichen Hindernissen auf der Fahrbahn rechnen oder nicht. Wenn wir von allen Verkehrsteilnehmenden absolute Genauigkeit erwarten würden, dürften nur Profis Autobahn fahren.

Stau als notwendiges Übel

Inzwischen sind etliche Wissenschaftler überzeugt, dass sich Staus generell nicht vermeiden lassen. Zwar gibt es neue Methoden, die eine Besserung versprechen. Dazu gehören etwa Ampeln an Autobahnauffahrten, die den Zufluss regeln – schließlich treten Staus erwiesenermaßen bei hoher Verkehrsdichte auf. Auch eine Einführung von Ideal- und Höchstgeschwindigkeiten könnte den Verkehrsfluss auf Autobahnen verbessern.

In erster Linie konzentrieren sich Verkehrsexperten nun darauf, genauere Stauprognosen zu liefern. So ist bei modernen Routenplanern eine exaktere Fahrzeitberechnung möglich.

Spurwechsel vermeiden, umsichtig fahren

Wie aber kommen Autofahrende in einem Stau am schnellsten vorwärts? Verkehrsexperten wie Michael Schreckenberg raten vor allem, ruhig auf einer Spur zu bleiben und abzuwarten. Wer ständig die Fahrbahn wechselt, kommt nicht schneller vorwärts. Im Gegenteil: Da die nachfolgenden Autos wieder bremsen müssen, wird eine weitere Staubildung begünstigt.

Vor Baustellen ist das Reißverschlussprinzip wichtig. Wer andere nicht einfädeln lässt oder selbst zu früh auf die zusammengeführte Spur wechselt, schadet dem Verkehrsfluss, so Schreckenberg.

Es gibt zwar inzwischen einige Berichte, dass die Spur wechseln in manchen Situationen doch schneller sein kann. Allerdings stellt sich dabei die Frage, wie sich die Verkehrslage entwickeln würde, wenn das Staugeschehen nur von Spurwechslern dominiert wäre.

Abfahren von der Autobahn bei Staus vermeiden

Experten und Expertinnen raten: Es lohnt sich nicht, von der Autobahn abzufahren oder gar auf eine andere Autobahn zu wechseln. Vor allem, wer auf Umgehungsstraßen wechselt, braucht meist deutlich länger, um ans Ziel zu kommen. Navigationsgeräte oder der Wunsch, wieder das Gas durchtreten zu können, führen dann gerne in die Irre. Nur wenn das Benzin zur Neige geht oder bei einer Vollsperrung der Autobahn ist die Abfahrt sinnvoll.

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