Mehr als 2500 Kilometer fließt der Ganges vom Himalaja zum Indischen Ozean. Einzigartiges Biotop, heilige Stätte und tödliche Kloake – der indische Fluss ist alles in einem. Jeder dreizehnte Bewohner der Erde ist direkt von ihm abhängig: Er spendet Trinkwasser, gibt Arbeit – und dient als Massengrab.


Dieses Wasser reinigt von Sünden: Wer in der indischen Stadt Varanasi stirbt, geht in die Ewigkeit ein. Das glauben die hinduistischen Mönche und Pilger, die den weiten Weg hierher auf sich nehmen.
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Wer im Ganges badet oder davon trinkt, verkürzt seine Lebenszeit, sagen dagegen die Ärzte und Umweltorganisationen. Allein zwei Millionen Kinder sterben pro Jahr durch das mit Keimen, Kadavern und Schwermetallen verseuchte Flusswasser.
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Ob diese Hindus wissen, worin sie baden? Hundert Milliliter des Wassers im Ganges – ein halbes Weinglas voll – enthalten bis zu hundert Millionen coliforme Bakterien, einen Hauptbestandteil menschlicher Exkremente. Zum Vergleich: In der Elbe sind es etwa 3.000 bis maximal 10.000, Trinkwasserqualität ist bei null oder knapp darüber erreicht. Den in Indien erlaubten Höchstwert überschreitet der Fluss damit um das Millionenfache.
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Mehr als 100 Städte und Tausende Dörfer liegen am Ufer des Flusses. Jeder dreizehnte Erdenbürger lebt am und im Umland des Ganges.
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Für zwei Drittel der etwa 500 Millionen Anwohner ist das Flusssystem die einzige Trinkwasserquelle. Trotzdem nutzen sie ihren „Brunnen“ auch als Müllkippe. Hinzu kommen religiöse Überbleibsel: Viele der Plastiktüten am Ufer von Varanasi enthalten Opfergaben der täglich 60.000 Pilger.
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Über Kilometer ziehen sich Treppenstufen den Ganges entlang. Die sogenannten Ghats dienen unter anderem als Toilette, Handelsplatz und Krematorium. Das Scindia-Ghat hier ist so schwer, dass es sogar den Tempel am Ufer nach unten drückt.
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Alle zwölf Jahre findet am Ganges ein Fest der Superlative statt – eine Kumbh Mela. In 55 Tagen kommen dann rund 90 Millionen Menschen zusammen, also etwa so viel wie alle Deutschen und Österreicher zusammen. Bei der letzten Kumbh Mela Anfang 2013 badeten innerhalb von 24 Stunden bis zu 30 Millionen Menschen im Wasser des Ganges.
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Drei Viertel der Einwohner der heiligen Stadt Varanasi leben vom Geschäft mit den Pilgern, den Leichen und dem Tod. Überall am kilometerlangen, mit Treppen gesäumten Ufer lodern Feuer: Tag und Nacht verbrennen Freiluft-Krematorien die Leichname. Umgerechnet rund 16 Euro kostet das All-Inclusive-Paket, drei Stunden Verbrennen mit Duftstoffen.
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Entweder übernehmen Angehörige die Bezahlung, oder die Bestatter behalten die Habseligkeiten der Toten. Besonders begehrt sind Edelmetalle in Form von Schmuck oder Goldzähnen. Je weniger Besitz, desto weniger Feuerholz …
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Für die Arbeit mit Toten ist bei den Hindus traditionell die niedrigste soziale Klasse zuständig, Parias oder auch „Unberührbare“ genannt.
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Etwa 40.000 Leichen landen allein in Varanasi jedes Jahr im Ganges. In der Trockenzeit kommen viele Leichenteile wieder zum Vorschein.
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Drei Stunden muss eine Leiche in der Regel brennen, bevor sie in den Fluss darf. Die Ärmsten der Armen sowie die Menschen, die aus religiösen Gründen als „unverbrennbar“ gelten, wie etwa Schwangere, Kinder oder Cholera-Kranke, werden direkt in den Fluss gelegt – ein gefundenes Fressen für Geier oder streunende Hunde, die sich über die im Wasser treibenden oder am Ufer angespülten Leichen oder Tierkadaver hermachen.
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Was als reiner Gebirgsfluss beginnt, ist wenige hundert Kilometer von der Quelle entfernt bereits eine Kloake: Mehr als vier Milliarden Liter Abwasser fließen pro Tag in den Ganges. Fast alle Versuche, die Verschmutzung zu bekämpfen, scheitern an Fehlplanungen und einer katastrophalen Infrastruktur.
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Die indische Regierung errichtete im Rahmen des „Ganga Action Plan“ in 25 Städten für 600 Millionen Euro Klärwerke. Genutzt hat es wenig: Viele der Anlagen sind zu klein konzipiert oder gegen einen Teil der Schadstoffe völlig wirkungslos.
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Etwa 10.000 Müllsammler lesen allein in Allahabad täglich 50 Tonnen Verwertbares auf.
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Der Ganges entspringt auf 4.000 Metern Höhe im Himalaja, dort heißt er noch Bhagirathi. Auch wenn der Fluss für die Anwohner und Pilger die heilige „Mutter Ganga“ symbolisiert, leiten die Inder über vier Milliarden Liter ungeklärte Abwässer in den Ganges ein – pro Tag. Chemische Giftstoffe zahlloser Industriebetriebe fließen zuerst in die Nebenflüsse und später in den Ganges. Gelder für Kläranlagen oder Kontrollen fließen dagegen meist in die Taschen korrupter Beamter.
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„Hier ist ein guter Platz zum Sterben“, denkt sich Prakash Kilam und lächelt. „Endlich!“ Der Todkranke ist am Ziel seiner Wünsche. Er befindet sich in Varanasi, der heiligsten Stadt für die weltweit rund 900 Millionen Hindus. Vor seinen Augen fließt der heilige Ganges, die „Mutter Indiens“, gemächlich dahin. Herr Kilam reckt die Arme gen Himmel. Für ihn ist es der reinste Ort im Universum – für andere einfach nur eine riesige Kloake.
Wie viele Leichen verträgt ein Fluss?
Langsam schreitet der gläubige Hindu an den Sterbehäusern vorbei. Die Menschen hier warten auf den Tod. Sie haben die beschwerliche, für manche mehr als 2.000 Kilometer lange Reise auf sich genommen, nur um in diese Stadt zu kommen. Wer in Varanasi stirbt und in den Ganges gelangt, tritt aus dem Kreislauf des Lebens heraus und in die Ewigkeit ein, so besagt es die Überlieferung. Millionen Hindus träumen vom Tod an diesem Ort, zehntausende machen ihren Traum jedes Jahr wahr. Doch oft reicht das Geld nicht für genug Brennholz, dass das Feuer ausreichend lang brennt. Dann werden die halbverkohlten Leichen einfach so in den Fluss gekippt.
Körpergifte und Fäulnisprozesse
Herr Kilam nimmt von der bizarren Szenerie scheinbar keine Notiz. Bald wird er einer der Vorübertreibenden sein, denn auch er mit seinen armseligen Mitteln kann keine anständige Verbrennung bezahlen. Wie bei jedem anderen Lebewesen werden nach dem Tod Fäulnisprozesse in seinem Inneren einsetzen. Besonders gefährlich ist das Bakterium Clostridium botulinum, das tierische Eiweiße zersetzt und ein Gift namens Botulinumtoxin produziert. Über den Verdauungstrakt aufgenommen, gehört es zu den tödlichsten Substanzen der Welt. Schon 0,001 Milligramm lähmen die Atmung, und der Betroffene erstickt. Vom Militär wird Botulinumtoxin sogar als biologische Waffe eingesetzt, etwa um die Brunnen von Feinden zu vergiften. Trotzdem ist das hundertfache Abkippen von Leichen im Ganges nicht illegal. Es ist quasi Gewohnheitsrecht, so will es die jahrtausendealte Hindu-Tradition.
Kann eine Kloake den Körper reinwaschen?
Doch der Ganges dient nicht nur als Friedhof: Etwa zwei Drittel der Menschen verlassen sich auf das Flusssystem als einzige Trinkwasserquelle. Das hindert die Inder dennoch nicht daran, weiter über vier Milliarden Liter ungeklärte Abwässer in die „Mutter Ganga“ einzuleiten – pro Tag. „Der Fluss ist eine Göttin, kein Mensch kann sie verschmutzen“, rechtfertigt Herr Kilam wie so viele Inder diese Praxis. Das Absurde: Einen Tempel würde er niemals mit Straßenschuhen oder ungewaschenen Füßen betreten, aus Angst, ihn zu beschmutzen.
Indiens giftigste Stadt
Besonders schlimm ist die Situation in Kanpur, auch bekannt als Indiens schmutzigste Stadt. Alle paar Meter strömt hier aus irgendeinem Hinterhof ein übel stinkender Bach aus Chemikalien und Tierabfällen in den Fluss – mal waldmeistergrün, mal purpurrot, mal tiefblau. Die rund 400 Lederfabriken produzieren täglich 30 Millionen Liter Sondermüll, verseucht mit einem hochgiftigen Mix aus Arsen, Cadmium, Blei oder Chrom. Letzteres gilt als besonders krebserregend; im Ganges wird der in Indien erlaubte Höchstwert des Schwermetalls um das Siebzigfache übertroffen. Nirgendwo sonst im Land ist die Tumorrate so hoch wie entlang des heiligen Flusses. Mehr als die Hälfte aller Anwohner leidet an Krankheiten, die durch verseuchtes Wasser übertragen werden. Dazu zählen etwa Cholera, Ruhr, Hepatitis-A oder Typhus. Immer wieder brechen Epidemien aus, als sei dies ein Katastrophengebiet. Allein an Durchfall stirbt statistisch jede Minute ein Mensch. Der Ganges ist so stark kontaminiert, dass er sogar die Grenzwerte für die Wassernutzung in der Landwirtschaft überschreitet: Bauern berichten von riesigen Kartoffeln, die sofort nach der Ernte verfaulen.
Wie viele Menschen passen in die größte Badewanne der Erde?
Genau wie Herr Kilam lassen sich jeden Tag etwa 60.000 Hindus trotz des Drecks nicht von einem „reinigenden“ Bad im Ganges abhalten – normalerweise. In Allahabad findet jedoch alle zwölf Jahre ein Fest der Superlative statt, eine Kumbh Mela: In der für indische Verhältnisse kleinen Stadt mit etwas mehr als einer Million Einwohnern kommen in 55 Tagen rund 90 Millionen Menschen zusammen. Das wäre etwa so, als würden alle Deutschen und Österreicher geschlossen nach Köln pilgern. Bei der letzten Kumbh Mela Anfang 2013 badeten innerhalb von 24 Stunden bis zu 30 Millionen Menschen im Wasser. Die Gläubigen wohnten in einer Zeltstadt, die mehr Einwohner umfasste als London, New York und Paris zusammen.
Massenpanik bei der Pilgerfahrt
Während der Prozedur prügeln Polizisten auf Badende ein, damit der Zug an Menschen durch Trödelei nicht zum Stocken kommt. Jedes Mal fordert das Fest Todesopfer, 1954 starben bei einer Massenpanik 500 Menschen. Was für ein Glück, so die Meinung vieler Hindus, dass sie vorher noch eine Kumbh Mela mitgemacht haben. Um bei dem Fest 2013 nicht noch weit mehr Tote durch eine Epidemie zu provozieren, veranlassten die Behörden die zeitweilige Schließung der größten industriellen Dreckschleudern. Außerdem wurde zusätzliches Wasser aus Stauseen in den Ganges eingeleitet, um die gesundheitlichen Folgen der Waschungen zu mildern.
Mehr Wasser als in ganz Westeuropa
Allein seine schiere Größe verhindert, dass der Fluss völlig umkippt. Bevor er nach 2.500 Kilometern das Meer erreicht, spülen mehr als 50 größere Zuflüsse immense Frischwasserinfusionen und neues Leben in den Ganges. Auch wenn Staudämme und Kanäle dem Fluss mehr als die Hälfte seiner Substanz rauben und er am Oberlauf deswegen in den Sommermonaten stellenweise trockenfällt, schwillt der Strom dennoch später in Richtung Mündung zu einem Giganten an. Während des jährlichen Monsunregens führt der Ganges mehr Wasser als alle Flüsse Westeuropas zusammen und wird dann nur noch vom Amazonas übertroffen. Und seit Millionen von Jahren lagert der Fluss Sedimente an seiner Mündung ab, fünf Kilometer tief reicht die fruchtbarste Erde des Planeten an manchen Stellen.
Hat die Serengeti einen Bruder in Indien?
An seinem Ursprung am Fuß des Himalaja und an der Stelle, wo der Ganges in den Indischen Ozean mündet und sich in 240 Einzelströme zum größten Flussdelta der Welt aufspaltet, existieren noch Reste der einstigen Wildnis. Die Tier- und Pflanzenvielfalt übertrifft sogar die der afrikanischen Serengeti: Wilde Elefantenherden durchstreifen vier Meter hohes Gras. Kapitale Königstiger jagen Hirsche durch die schlammigen Fluten und treffen dabei auf Flussdelfine und -haie. Nashörner und Krokodile streiten um die Vorherrschaft in den Uferzonen. Zehn bis 17 Millionen Liter Wasser ergießen sich pro Sekunde auf einer Breite von 350 Kilometern ins Meer. Auch Herrn Kilams Überreste wird der Ganges irgendwann hierhin tragen.