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Arabischer Frühling: Wie sechs Euro den Mittleren Osten in Brand setzen

Der Butterfly-Effekt führt während des Arabischen Frühlings zu unterschiedlichen Auswirkungen in den Ländern Nordafrikas. Während der Umsturz in Tunesien erfolgreich verläuft, bricht 2011 in Syrien ein bis heute andauernder Bürgerkrieg aus. Mehr als elf Millionen Menschen sind auf der Flucht, Städte wie Kobane liegen in Trümmern.

Zine el-Abidine Ben Ali gilt lange als unantastbar. Seit 1987 regiert er Tunesien mit eiserner Hand – ist verantwortlich für die Misshandlung, Ermordung und Vergewaltigung Tausender Unschuldiger. Und er ist gierig. Das Land mit seinen elf Millionen, teils bettelarmen Einwohnern plündert er strategisch aus. Geschätzte zehn Milliarden Euro leitet er jedes Jahr von den Staatskassen auf sein Privatkonto um – eine Summe, die zu der Zeit ungefähr einem Drittel des tunesischen Bruttoinlandsprodukts entspricht. Dennoch kann der Diktator mehr als 23 Jahre unbehelligt durchregieren. Dass er am Ende doch stürzt, verdankt er nicht einem weiteren Mordkomplott oder Untreueskandal – sondern einem Flügelschlag des Schicksals, der so alltäglich und unbedeutend erscheint, dass er zunächst niemandem auffällt. 

Eine kleine Schicksalswendung…

Es beginnt auf dem Gemüsemarkt einer kleinen Stadt in der Wüste Tunesiens … Sidi Bouzid ist eine staubige Kleinstadt. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Die meisten Bewohner schaffen es nur mit Mühe, über die Runden zu kommen – so wie Mohamed Bouazizi. Der 26-Jährige ernährt fünf Geschwister, seine Mutter und einen Onkel mit einem kleinen, illegalen Gemüsestand auf dem Basar von Sidi Bouzid. Eine Händlerlizenz kann er sich nicht leisten. Am Morgen des 17. Dezember 2010 hat er wie jeden Tag auf dem Großmarkt Tomaten, Äpfel und Zwiebeln gekauft – und schleppt sie vier Kilometer durch die Stadt, um sie für einen kleinen Aufpreis an seine Stammkunden zu verkaufen. Doch an diesem Tag ist alles anders. Eine kleine Wendung des Schicksals, die sich zu einem Sturm entwickeln wird. Und alles, was es dazu braucht, ist eine kurze Begegnung: Faida Hamdy arbeitet als Stadtinspektorin. Sie ist 45 Jahre alt, die Tochter eines Polizisten und verfügt über ein makelloses Führungszeugnis. Sie jagt keine Verbrecher. Zu ihren Aufgaben gehört es, Beschwerden über Lärm entgegenzunehmen, zugeparkte Kreuzungen räumen zu lassen oder eben illegale Händler abzumahnen. An diesem Tag will Faida Hamdy die Lizenz von Mohamed Bouazizi sehen. Doch der hat keine. Und auch die Strafe von umgerechnet etwa sechs Euro kann er nicht bezahlen. Es sind diese sechs Euro, die den Butterfly-Effekt auslösen. 

Hamdy schließt den Stand, beschlagnahmt die Waren. Doch als sie auch die Waage, Mohameds kostbarsten Besitz, mitnehmen will, wehrt sich der Mann. Polizisten eilen herbei. Es kommt zu einem Handgemenge. Für Mohamed ist es das Ende. Er steht vor dem Nichts. Wie soll er nun seine Familie ernähren, wie das Schulgeld für seine Geschwister bezahlen? Der Gemüsehändler ist so verzweifelt, dass er zur Präfektur läuft, um seine Waage zurückzuverlangen. Doch dort wird er nicht einmal in das Gebäude gelassen. 

…wird zum großen Sturm

Was danach passiert, ist nicht länger nur das tragische Schicksal eines tunesischen Gemüsehändlers – sondern Teil der Weltgeschichte. Mohamed kauft eine Dose Farbverdünner und übergießt sich von Kopf bis Fuß damit. Kurz darauf geht er in Sichtweite der Präfektur in Flammen auf. Herbeieilende Sicherheitsmänner können ihm nicht helfen, da die mitgebrachten Feuerlöscher nicht funktionieren. Mohamed Bouazizi stirbt – und für einen Moment scheint es, als sei sein trauriges Kapitel damit abgeschlossen. Doch dann passiert etwas Überraschendes. 

Am Abend sammeln sich die ersten Menschen vor der Präfektur und protestieren gegen das Unrecht und die Armut, die so viele Menschen seit Jahrzehnten in Tunesien erleben. Und die Demonstranten erklären Mohamed Bouazizi zu ihrem symbolischen Helden. In der Nacht rücken schwer bewaffnete Sondereinheiten der Polizei an. Doch die Rechnung des Regimes geht nicht auf. Anstatt wegzulaufen, werden es immer mehr Menschen auf den Straßen. Als die Polizisten Tränengas einsetzen, werfen die Menschen Steine, besetzen die Polizeistation. Der Aufruhr setzt eine seit Jahrzehnten aufgestaute Wut und Verzweiflung frei – und verbreitet sich wie ein Flächenbrand über das Land und den afrikanischen Kontinent. Zine el-Abidine Ben Ali verlässt zehn Tage nach der Selbstverbrennung Tunesien und flieht ins Exil nach Saudi-Arabien. In Libyen lyncht ein Mob Diktator Muammar al-Gaddafi. In Ägypten jagt man nach 30 Jahren Herrschaft Husni Mubarak aus seinem Amt. In Syrien beginnt ein brutaler Bürgerkrieg. Letztlich brechen in mindestens 17 Ländern Proteste gegen Unterdrückung, Korruption und staatliche Repressionen aus – und stürzen den gesamten afrikanischen Kontinent in ein Chaos, von dem er sich bis heute nicht erholt hat.
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