Wirklich nur Opfer? Die Österreicher und der „Anschluss“ 1938
- Von Welt der Wunder
- Wissen
- 02.05.2020
Nach dem Ende der Nazi-Herrschaft pflegte Österreich die Opferrolle – dass auch Österreicher Täter waren, wurde lange weitgehend totgeschwiegen.

15. März 1938: Hitler zieht nach der Besetzung Österreichs in Wien ein.
©Imago/ZUMA/Keystone
Bei seiner Ansprache auf dem Wiener Heldenplatz verkündet der gebürtige Österreicher vor jubelnden Massen „den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich".
©Imago/United Archives International
Nach dem Krieg war man in Österreich allerdings sehr bemüht, sich als reines Opfer der Expansionsbestrebungen von Nazi-Deutschland darzustellen. Das Bild zeigt Wien am sogenannten „Victory Day“ – dem Tag, an dem Nazi-Deutschland kapitulierte und der 2. Weltkrieg beendet wurde.
©Imago/ITAR-TASS
Den Grundstein für den "Anschluss" Österreichs legte Bundeskanzler Dollfuß (Mitte) bereits 1934, als er Österreich zum Ständestaat umbaute - und damit der demokratischen Zivilgesellschaft den Todesstoß versetzte.
©Imago/United Archives International
Sein Nachfolger Schuschnigg versuchte zwar noch, den Bundesstaat Österreich vor der Übernahme durch Nazi-Deutschland zu retten, war damit aber zum Scheitern verurteilt. Das Bild zeigt seine Ansprache in Wien am 25. Februar 1938, bei der er die Unabhängig vom Deutschen Reich erneut betonte…
©Imago/United Archives International
Keine drei Wochen später hatte Schuschnigg den Kampf verloren, als das Deutsche Reich am 12. März 1938 die Einsetzung einer nationalsozialistischen Regierung in Österreich erzwang. Staatschef wurde Arthur Seyß-Inquart.
©Imago/United Archives International
Parallel zum erzwungenen Regierungswechsel marschierten am 12. März 1938 Wehrmachtssoldaten in Österreich ein - Deckname der Operation war „Unternehmen Otto".
©Imago/United Archives
Am 13. März wurde Österreich offiziell Teil des Großdeutschen Reichs, zwei Tage später besuchte Hitler Wien.
©Imago/Arkivi
Große Paraden für den „Führer" gab es von nun an regelmäßig in der Donaumetropole - stets gesäumt von den Bürgern der Stadt.
©Imago/United Archives International
Auch die katholische Kirche Österreichs, hier in Form des Wiener Erzbischofs Innitzer, machte Hitler ihre Aufwartung – vermutlich jedoch nicht ganz freiwillig.
©Imago/Arkivi
Die Propagandamaschine der Nazis sprang nun auch in Österreich an - diese Postkarte stilisiert Hitler als Schöpfer des Großdeutschen Reiches.
©Imago/Arkivi
Die nachträgliche Abstimmung über den „Anschluss" Österreichs, die die Nazis durchführen ließen, diente auch lediglich Propagandazwecken - mit einer demokratischen Entscheidung hatte sie nichts zu tun.
©Imago/United Archives International
Auch sonst lief in Österreich nun alles so, wie im Rest des Großdeutschen Reichs... Schikane, Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung eingeschlossen. Das Bild zeigt das Konzentrationslager Mauthausen – das größte Konzentrationslager in Österreich. Rund 100.000 Menschen wurden dort und in den Nebenanlagen ermordet.
©Imago/Leemage
Nach dem Krieg war man in Österreich sehr bemüht, die eigene Opferrolle zu pflegen - dass ihr Land auch so manchen Täter (Bild: Adolf Eichmann vor Gericht) hervorgebracht hat, wollten viele Österreicher lange nicht wahrhaben.
©Imago/ZUMA/Keystone
Erst die Debatte um die NS-Vergangenheit des 2007 verstorbenen österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim stieß die Auseinandersetzung des Landes mit der eigenen Schuld an.
©Imago/SKATA
Mittlerweile hat die Alpenrepublik akzeptiert, dass sie in der Zeit von 1938 bis 1945 zwei Rollen gespielt hat – denn Österreich war sowohl Opfer als auch Täter.
©Imago/CHROMORANGEDoch so begeistert zumindest Teile der österreichischen Bevölkerung den „Anschluss“ feierten, so vehement negierte die Alpenrepublik nach dem zweiten Weltkrieg jegliche Mitschuld an den Gräueltaten des Naziregimes – man pflegte lieber den Mythos des „ersten Opfers des nationalsozialistischen Deutschlands“, der von den Alliierten in der Moskauer Deklaration von 1943 festgestellt worden war. Diese Opferrolle wurde sogar im Staatsvertrag der Republik Österreich aus dem Jahr 1955 festgeschrieben und steht dort bis heute. Angesichts von geschätzt 600.000 bis 700.000 NSDAP-Mitgliedern und zahlreichen, an nationalsozialistischen Gräueltaten aktiv beteiligten Österreichern ist diese Darstellung aber doch zumindest fragwürdig.
Austrofaschismus als Wegbereiter
Nazi-Deutschland bestritt damals vehement eine Beteiligung an dem Umsturzversuch – vor allem deswegen, da Österreich zu dieser Zeit eng mit Italien verbündet war und Hitler auf keinen Fall dessen faschistischen Diktator Mussolini verärgern wollte. Im Jahr 1935 änderte sich die Situation aber, nachdem Italien durch den Krieg in Äthiopien international isoliert und in der Folge auf Gedeih und Verderb an die Seite Hitlerdeutschlands gedrängt wurde. Von nun an wuchs der Einfluss Nazideutschlands in Österreich zunehmend, Bundeskanzler Schuschnigg musste unter Druck aus Berlin sogar Nationalsozialisten in seine Regierung aufnehmen. Ab 1937 durften diese auch in die Regierungspartei Österreichs eintreten und sich in so genannten „Völkischen Referaten“ selbst organisieren. In einem letzten Akt der Verzweiflung kündigte Schuschnigg im März 1938 eine Volksabstimmung über die künftige Unabhängigkeit Österreichs an und läutete damit unfreiwillig das Ende des eigenständigen Staates ein: Unter Druck aus Berlin wurde am 12. März 1938 eine nationalsozialistische Regierung unter der Führung von Arthur Seyß-Inquart eingesetzt. Parallel lief das „Unternehmen Otto“ an; der Einmarsch deutscher Truppen nach Österreich begann.
Doch welche Rolle spielte die Entwicklung Österreichs ab 1934 für die Ereignisse des 12. März 1938 und der folgenden Monate und Jahre? Historiker beschreiben den Austrofaschismus gegenüber dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus heute als sehr milde Ausprägung dieser Staatsform, da wesentliche Merkmale wie eine staatlich gelenkte Ideologie, Massenorganisationen und eine aggressive imperialistisch geprägte Außenpolitik fehlten. Und doch sorgte dieser „Kleinfaschismus“ durch die mit ihm verbundene Abschaffung demokratischer Strukturen letztlich dafür, dass die deutschen Nationalsozialisten ein verhältnismäßig leichtes Spiel beim „Anschluss“ hatten – denn ohne eine funktionierende Zivilgesellschaft fehlt die Grundlage für breiten demokratischen Widerstand.
Sehr engagierte „Opfer“
Die Mitgliedschaft zahlreicher Österreicher in der NSDAP muss nicht zwangsläufig als Zeichen der Zustimmung oder gar Begeisterung für das nationalsozialistische Herrschaftssystem gewertet werden – auch in Deutschland gab es viele Menschen, die aus Angst oder Opportunismus Mitglied in der Nazi-Partei waren. Doch der jahrzehntelang gepflegte Opfermythos der Österreicher gerät spätestens dann ins Wanken, wenn man sich mit der aktiven Rolle mancher ihrer Mitbürger beschäftigt: Obwohl die Bewohner der „Ostmark“ – so der offizielle Name während NS-Herrschaft - nur acht Prozent der Bevölkerung des Großdeutschen Reichs ausmachten, waren Schätzungen zu Folge bis zu 14 Prozent der SS-Mitglieder und 40 Prozent aller KZ-Aufseher österreichischer Abstammung. Im Stab von Adolf Eichmann, dem Organisator von Vertreibung und Deportation der europäischen Juden, stellten Österreicher sogar 70 Prozent der Mitarbeiter. Eichmann, der später als zentral mitverantwortlich für die Ermordung von geschätzten sechs Millionen Juden verurteilt und hingerichtet wurde, war selbst auch Österreicher. Reine Opfer sehen anders aus.
Waldheim-Affäre: Späte Aufarbeitung
Auch wenn Waldheim letztlich nicht verurteilt wurde, da ihm keine Kriegsverbrechen nachgewiesen werden konnten – die Affäre um ihn und seine NS-Vergangenheit war Auslöser für die Aufarbeitung der Rolle Österreichs im Nationalsozialismus, die aus Sicht vieler Österreicher längst überfällig war. Bundeskanzler Vranitzky fasste den nun veränderten Blick des Lands auf seine NS-Geschichte in einer Rede im Jahr 1991 zusammen: "Es gibt eine Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben (...) Wir bekennen uns zu allen Taten unserer Geschichte und zu den Taten aller Teile unseres Volkes, zu den guten wie zu den bösen; und so wie wir die guten für uns in Anspruch nehmen, haben wir uns für die bösen zu entschuldigen - bei den Überlebenden und bei den Nachkommen der Toten."
Auch wenn es lange gedauert hat – letztlich hat sich die Alpenrepublik heute damit abgefunden, dass sie während der Zeit des Nationalsozialismus sowohl Opfer als auch Täter war. Der 2007 verstorbene Kurt Waldheim brachte dies ein Jahr vor seinem Tod in einem Interview auf den Punkt: "Es war notwendig, ja unverzichtbar, dass wir Österreicher uns von der reinen Opferrolle verabschiedet haben. Sie war zwar Grundlage unseres inneren Friedens nach 1945, des Wiederaufbaus und unserer Nachkriegs-Identität, aber doch nur Teil der Wirklichkeit."